Netzwerktreffen in Krakau: Überlegungen zum Thema “Literatur live übersetzen”

5. 2. 2014

In ihrem Dialog mit dem Titel „Literatur live übersetzen“ widmeten sich Dorota Stroińska (Berlin) und Jurko Prochasko (Lwiw) dem Problem, einen alten Text, einen Klassiker der Weltliteratur hier und heute zu übersetzen. Anhand von Goethes „Wahlverwandtschaften“ (erschienen 1809) wurde dieser Problematik „live“ nachgespürt, wobei die Ausgangssituationen für beide Übersetzer jeweils andere waren: Während es bereits eine Übersetzung ins Polnische gibt (von Wanda Markowska aus dem Jahr 1959), entbehrt der ukrainische Buchmarkt bis heute einer Übersetzung ins Ukrainische. Es stellten sich hier sofort die Fragen: Inwieweit kann ein 200 Jahre altes Buch heute angemessen übersetzt werden? Und ist eine Neuübersetzung überhaupt nötig?

Liegt bereits eine Übersetzung vor, bestenfalls eine „authentische“, in etwa so alt wie der Originaltext, so bietet diese bereits sprachliche Ressourcen, aus denen ein Übersetzer schöpfen kann; er ist in der Lage, seine eigene Leseweise vor dem Hintergrund einer anderen, bereits länger existierenden, zu reflektieren und bei Problemen einen vorhandenen Lösungsansatz zu überprüfen. Im Falle der Übersetzung von Wanda Markowska handelt es sich um einen zwar nicht authentischen, dennoch älteren Text, vor einem halben Jahrhundert verfasst. Auch wenn es alles andere als angebracht wäre, Goethes „Wahlverwandtschaften“ in einer deutlich erkennbaren modernen Sprache zu übersetzen, so merkt man selbst einem neutral formulierten Text sein Alter an. Doch nicht nur aus diesem Grund wird eine Neuübersetzung sinnvoll oder gar nötig, wenn es sich um einen bedeutenden Klassiker handelt. Neben der alternden Sprache einer Übersetzung ist die Motivation des Übersetzers von Bedeutung. Woran liegt ihm besonders bei seinem Text? Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass Markowskas Text kürzer ist als Goethes Vorlage, als exemplarisch hierfür wird der erste Satz betrachtet: Goethe beschreibt detailliert den Veredelungsprozess junger Bäume, den Baron Eduard vornimmt („frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme … bringen“), was Markowska nur ungenau mit den Worten „szczepiąc drzewka“ (Bäumchen pfropfend) zusammenfasst. Dadurch lasse sich der Text zwar gut lesen, nehme dem Leser aber die Möglichkeit der mehrfachen Deutung, so Stroińska. Bereits der erste Satz enthalte in seiner Detailliertheit bereits das Thema des gesamten Buches, nehme die Handlung vorweg. Indem die Baumzweige mit den Protagonisten des Romans gleichgesetzt würden, entstehe eine Ebene zwischen den Zeilen, die nicht nur erkannt, sondern auch entsprechend übersetzt werden müsse. Einmal mehr fällt in diesem Zusammenhang der Begriff des Taktgefühls gegenüber dem Ausgangstext. Die Tatsache der fehlenden Metaebene bei Markowska lässt darauf schließen, dass ihre Übersetzung nicht Anspruch auf „Wahrheitsgehalt“ (nach Walter Benjamin) erhebt, vielmehr geht es darum, dem Leser eine angenehme Goethe-Lektüre zu bereiten. Somit sei auch Markowskas Übersetzung ein Kind ihrer Zeit, so Stroińska. Heute sei man sensibler dem Ausgangstext gegenüber, neue Leseweisen eröffneten neue Bedeutungsschichten bei der Lektüre, und so seien Neuübersetzungen auch unbedingt als Chance zu sehen, Neues zu schaffen, um den neuen Leser zu erreichen. Ein Klassiker muss der Zeit nicht angepasst werden, seine Übersetzung sehr wohl, immer wieder.

Was aber, wenn es noch keine Übersetzung gibt? Eine bis heute fehlende Übersetzung der „Wahlverwandtschaften“, dieses Werkes der Weltliteratur ins Ukrainische – so skandalös sie auch ist, so sehr ist auch sie als Chance zu verstehen. Über die Bereicherung, die dem ukrainischen Lesepublikum durch die Übersetzung der „Wahlverwandtschaften“ zuteil wird, muss nicht viel gesagt werden. Als Kind ihrer Zeit  hätte diese Übersetzung Pioniercharakter, stehen doch keine sprachlichen Ressourcen zur Verfügung. Jurko Prochasko hat erste Schritte getan und seine Übersetzung des Romananfangs vergleichend mit der Markowskas zur Diskussion gestellt, woraus sich ein interessanter Dialog über Konventionen und Assoziationen in den Zielsprachen, ebenso über den Umgang mit alter Sprache beim Übersetzen entwickelte, um wieder zu der Feststellung zurückzukehren, dass jede der vorgestellten Übersetzungen ihre unbedingte Berechtigung hat. Schlagwörter wie Sensibilität und Taktgefühl dem Ausgangstext gegenüber einerseits, und die Position des Übersetzers andererseits wurden anschaulich „live“ diskutiert, eine Veranstaltung mit nachhaltigem Charakter.

von Daniela Pusch 


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