(Romanauszug)
Seit über einem Monat schon trieben die Bolschewiken in Lemberg ihr Unwesen, es begannen Verhaftungen, Menschen verschwanden spurlos, wie vom Erdboden verschluckt, und vergebens holten ihre Familien bei den neu entstandenen Behörden Erkundigungen ein, die nur mit einem Achselzucken und einer Frage quittiert wurden, nicht auf Ukrainisch, sondern seltsamerweise auf Russisch:
„Woher sollen wir das denn wissen?“
und gerade da läutete eines späten Abends jemand unten an der Pforte, Adelcia, das von Großmutter vor Kurzem aus Przemyśl herbeigeholte Dienstmädchen, wohl kaum mehr als ein, zwei Jahre älter als Sara, ging hinunter, um zu öffnen,
und einen Augenblick später stand ein fremder Mann in der Tür zur großelterlichen Wohnung im ersten Stock, unrasiert, über der Stirn eine Schirmmütze, die das Gesicht vor Blicken schützte, am Leib irgendwelches schäbiges Zeug, doch als er die Mütze abnahm und wir seine Augen sahen, erkannten wir ihn sofort, obgleich ohne die bei einer guten Adresse maßgeschneiderte Offiziersuniform, die glänzenden Stiefel mit den Schäften von Hiszpański, den Riemen und das Holster mit der Dienstpistole Marke Walther darin,
so kam unser Vater endlich aus dem Krieg, jetzt war er wieder mit uns, gerettet, in einem Stück und gesund, und er trat an Mutter heran, die ihn jedoch kaum umarmte, sich einige Schritte entfernte und sogleich sehr bestimmt, fast befehlend sagte:
„Los, Genio, geh dich waschen und rasieren… Adelcia lässt dir ein Bad ein… Dann ziehst du dich um und kannst uns in Ruhe alles erzählen,“
und es verging keine Stunde, da saßen wir alle beisammen: Großmama, Großpapa Stasio, Mutter, Renek und ich, ebenso Sara (lächelnd bemerkte Vater bei ihrem Anblick:
„Kaum bin ich länger nicht da, schon habe ich drei anstatt zwei Kinder…“
und er küsste Sara die Stirn, und sie ihm die Hand),
also saßen wir am Wohnzimmertisch und hörten Vaters Geschichte, und im Gedächtnis blieb mir gerade diese eine Szene:
auf der Straße zur südlichen Grenze hält Vater mit entschiedener Geste einen Sanitätswagen an und lässt unter Androhung des Gebrauchs von Waffen irgendeinen Würdenträger mitsamt Familie daraus aussteigen, befiehlt den Soldaten seiner Einheit alle Koffer, Taschen, Pakete und Truhen auf die Straße zu werfen, weil gleich hinter dem Graben – und seine zeigende Handbewegung sah ich vor mir – Verletzte liegen,
und ich stellte mir vor, wie er, unerschrocken, mit gezogener Pistole, höflich, aber keinen Widerspruch duldend, den Insassen befiehlt die Ambulanz zu verlassen, obwohl auch Frauen und kleine Kinder darunter sind,
und später sah ich ihn in sowjetischer Gefangenschaft hinter dem Stacheldraht des Übergangslagers in Butschatsch stehen, in der Stadt, wo er vor Jahren sein erstes Arztpraktikum absolviert hat, und sah ihn noch am selben Tag wieder hinausspazieren, rausgeholt von seinen jüdischen Ärztekollegen, die in der sowjetischen Stadtregierung schon erste Bekannte haben und den Wachen erklären, da wäre gerade ein schwerer Fall, denn ein Oberst oder gar ein General, kurz ein hohes Tier, sei plötzlich erkrankt, und für das eilig zusammengerufene Konsilium ein dritter Arzt unabdingbar, und das wirkt,
noch in der selben Nacht tauscht unser Vater seine fabelhafte Uniform und die Schaftstiefel gegen unauffälligere Kleidung und macht sich auf den Weg nach Lemberg, in das Haus der Schwiegereltern, und hier trifft er unerwartet nicht nur diese, sondern auch seine Frau und die Söhne, denen es nicht mehr gelungen ist, nach Warschau zurückzukehren,
und dies so freudige doppelte Erstaunen, seines, dass wir hier waren, dass er uns sah, und unseres, dass er glücklich den Sowjets entschlüpft war, machte es im ersten Moment schwer, Pläne für die Zukunft zu schmieden,
unser Vater hatte gedacht, sich von hier nach Warschau begeben zu können, wo Frau und Söhne auf ihn warten, überzeugte sich aber vom Gegenteil, er würde sich also dorthin durchschlagen müssen, ohne überhaupt zu wissen, ob es die Wohnung in Warschau noch gab, ob er dort würde arbeiten können und welche Gefahr im drohen könnte, denn hier, im nun sowjetischen Lemberg, müsste er sich – als Offizier der polnischen Armee, als Freiwilliger im Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1921 – versteckt halten,
und plötzlich zwinkerte Sara mir zu und wies mit dem Blick auf Mutter und Vater, und ich sah sie nacheinander an, und entdeckte in ihren Augen Ungeduld und Verlangen, ich begriff also mühelos, dass sie endlich allein sein wollten, Sara, Renek und mir fielen langsam die Augen zu, wir liefen also in das Badezimmer, um uns vor dem Schlafen ordentlich zu waschen, danach legten wir uns wie immer zu dritt auf das breite Sofa unter dem Wandteppich aus Butschatsch, Mutter und Vater aber gingen in das Nebenzimmer, aus dem noch lange ein Lichtschein und Gesprächslaute drangen,
dann ging die Lampe plötzlich aus, Mutter ging durch unser Zimmer hinüber ins Bad, worauf sie nackt wieder zurücklief und hinter sich die Tür verschloss, und ich und Sara (denn Renek war schon eingeschlafen) sprachen flüsternd davon, wie die beiden dort nebeneinander im Bett liegen, sich küssen und umarmen, sich anschmiegen und lieben, und sich umschlingen, gierig aufeinander,
und das dauerte sehr lange, und dann lief Mutter wieder auf Zehenspitzen durch unser Zimmer, und wir hörten Wasser plätschern, ehe sie lautlos wieder in ihr Zimmer huschte, wo auf dem Sofa, auf dem sie lange Wochen alleine geschlafen hatte, nun jemand Zärtliches und Nahes auf sie wartete,
und als wir am Morgen darauf mit Sara in das Badezimmer kamen, sahen wir an der Wand einen Irrigator hängen, der während Papis langer Abwesenheit in einem Schränkchen gestanden hatte, und eine aus einer Schublade hervorgeholte bauchige Birne mit einem Röhrchen aus Ebonit,
und ich dachte, dass jetzt alles in die gewohnten Bahnen zurückkehrt, dass wir zusammen sein würden, zu viert, nein zu fünft, denn um nichts in der Welt wollte ich mich von Sara trennen,
und wir setzten uns gemeinsam an den Tisch, Adelcia brachte eine Kanne mit Kaffee, und Milch, und Brot, und eine Rolle Butter vom Land, und Hagebuttenkonfitüre, und zuerst schenkte sie in Papis Tasse ein, und lächelte dabei für ihn allein, ich aber konnte meinen Stolz nicht verbergen: um einen solchen Vater konnte man uns nur beneiden… und überhaupt blickten auch Mutter und Sara ihn bewundernd an, wenn er lachte, scherzte und Späße zum Besten gab, als wären wir nicht in einer geknechteten Stadt, seit kurzem Hauptstadt der Westukraine.
Aus dem Polnischen von Jakob WALOSCZYK, Mykolajiw/Ukraine
Auszug aus dem Roman „Rzeczy nienasycone“ (dt. Unersättliche Dinge), erschienen 1999 im Verlag W.A.B. (S. 30-33)