Berta BOJETU BOETA: Das Vogelhaus, Romanauszug (Aus dem Slowenischen von Lydia NAGEL)

Erstveröffentlichung in: LICHTUNGEN 137/2014 (Graz), 30. April 2014
2. 5. 2014

Einleitung

Das Vogelhaus (Ptičja hiša, erschienen im Wieser Verlag/Klagenfurt) ist der zweite Roman der Schauspielerin Berta Bojetu Boeta und wurde 1996 als bester Roman des Jahres mit dem Kresnik-Preis ausgezeichnet. Als feministische Dystopie entfaltet der sprachlich dichte Text eine starke Metaphorik und Symbolhaftigkeit.

 

Das Vogelhaus

Es schwieg und schwieg, etwas schwieg und da war nichts, worauf man hätte zeigen können. In den Monaten, die du auf der Insel verbracht hattest, hattest du in dir das zähe Fließen deiner eigenen und fremder Trauer erkannt, in der du nach Hilfe riefst vor der Entfremdung von dir selbst, nach Händen riefst, die dich unter Menschen stoßen würden, wo du vergessen könntest. Der bis auf Blut und Schorf gesuchte Schrei wurde stärker und blähte sich auf, sank ein und rieselte aus dem Mund ins Fleisch, kroch und lauerte.

Drei Monate Regen in dieses längst breitgeflossene Etwas, das da schwieg und bösartig wucherte, am Blut haftete, viel Regen und noch mehr Umarmungen drängten dich in dich selbst, und du umarmtest Helena Brass, den Wachkommandanten, Lana und Uri, sie und jene, die du schon auf der Insel langsam vergessen hattest, drängten dich in dich selbst, so dass du nicht unter Leute gingst in diesen Tagen. Etwas schwieg in dir und in den anderen, es schwieg immer mehr, du bekamst es nicht zu fassen, es war einfach da und drohte, gab dir Raum für einen kurzen Atemzug, drängte, drückte und trieb dich in dieses Schweigen, das sich festsetzte, anwuchs und auf dich zeigte, auf die Häuser und Straßen, auf die Viertel der Städte. Sie lagen vor dir, zerfurcht von den Efeuwurzeln auf den Adern der Mauern, der Pflastersteine, der Luft, des Dorfes. Es dehnte sich aus, und die Einsamkeit schüttelte euch, diese oder jene, beobachtete euch, was ihr lebt, was ihr esst und woher ihr es genommen habt, schwieg eine Weile und zeigte sich ganz oder ein wenig, dort unter euch, die ihr nichts ahntet, die Wahrheit nicht sehen wolltet, nicht konntet, es war einfacher, wenn es euch egal war, wenn ihr nur essen und schlafen konntet.

Ein paar Wochen nachdem ihr die Insel verlassen hattet, starb auch Lana, unerwartet, am helllichten Tag, mitten in der Arbeit, als sie dir schon in dem Durcheinander und der für dich unlösbaren Unordnung ein Zuhause geschaffen und die kommende Macht des unbekannten Schweigens aufgehalten hatte. Sie war mit dir gefahren und du hattest dir einen Platz in ihrer Nähe geschaffen. Du hattest dich beruhigt in den Tagen eingerichtet, der Nähe zugenickt, vergessen, wolltest die Einsamkeit vergessen, tatsächlich aber war sie zum Sterben gekommen. Zumindest im Tod werden sie mich nicht haben, stand in jenen Wochen auf ihrem Gesicht geschrieben. Du erkanntest ihre Anspielung und ihren Aufschrei: Hier kann ich wenigstens atmen! Und sie atmete wirklich, atmete in die Dinge, die Mauern, in dich, so dass ihr auflebtet und andere Farben bekamt. Die Erinnerung an Uri stand noch wie ein Nebelschleier zwischen euch, ein Schleier rosaroter Wünsche, die man nur auszusprechen brauchte. Aber als sie gegangen war, als du ihren Körper zuschütten ließest, schien es dir, dass du auch den Grund zu sein, zu handeln und zu atmen zuschüttetest; ja dass da kein Raum zum Atmen mehr war. Die Leere und die Beklommenheit wogten eingesunken, jetzt die eine und sofort auch die andere, gnadenlos klebten sie sich an dich und folgten dir, hockten auf deinen Lenden, und es war unmöglich, sie zu vertreiben. Es kam eine Zeit, eine solche Zeit, in der alles mit Uri begann und endete. Du warst das, was da schwieg, und das, was da schwieg, warst du; in dir, dort und darin war nur noch er hängengeblieben. Von dem Moment an, als du in der Kirche auf der Insel in dem Mann, der zu deinen Ausstellungseröffnungen kam, Uri erkannt hattest, hattest du dir eine Reihe unlösbarer Fragen gestellt und nach Erklärungen gesucht, warum er dich nicht erkannte. Nach Lanas Tod, im Zustand der wirbelnden Stöße gegen die Tage, verwandeltest du alles in Kränkung. Du drängtest zu ihm, nur damit er antworten, erklären würde; du liefst ihm hinterher nur für ein kurzes Wort, eine winzige Gnade. Du flehtest in den blauen Himmel unausgeschlafener Morgen und versankst. Und so war Uri auf einmal in dem jungen Tag, der aus dem Blau geboren wurde; er war der Schlaf, wurde ein Vogel, angesiedelt im letzten Blau des Blutes, im Blau des Brotes und der Tränen, in den blauen Morgen, die Tag wurden und dem Tag, der in die Nacht zerfiel, mit Vögeln auf den Armen, in den Haaren, Uri schon ein Vogel wie die Mutter, Uri überall und nach außen, ein Vogel, der aufgeflogen war, als du ihn für einen Augenblick festhalten oder einfangen wolltest; Uri in der Sonne, die so blendete, dass du nichts mehr sehen konntest …

Quelle: Berta Bojetu: Ptičja hiša. Celovec/Salzburg: Wieser 1995.

 Einleitung und Übersetzung aus dem Slowenischen von Lydia NAGEL, Berlin

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