Bruchstück B 101
Zwei Blasen hingeschmiert mit Kreide
wie ein Hauszeichen
auf dem Putz außen an der Tür:
hier wohnt Wahnsinn.
Lächelnd kommt er mir entgegen an dem Tag, als er verrückt wird.
Ein paar Schritte mehr und das Lächeln verschwindet,
nie sah ich einen Menschen so plötzlich erdunkeln,
das ganze Gesicht einstürzen, sich vergessen
und weiter starren, alles abgeben auf Gedeih und Verderb
und mit grauenhaft geweiteten Augen zusehen,
wie es anwächst,
wie es unaufhaltsam anwächst.
Erst dann ruft eine Stimme ihn
beim Namen heraus. Seit dem Tod seiner Mutter lebt František
allein im ganzen Haus.
Er führt mich den Flur entlang,
er wird mir beipflichten, was ich auch sage,
die lockeren Hosen rutschen ihm von den Hüften
hinab über die schwarze Scham,
die ich mit leichter Beunruhigung erspähe,
erahne,
bevor er sie wieder hochzieht.
Nicht sofort geht mir auf, wo ich eingetreten bin.
Verhalten normal, Antworten normal.
Vielleicht nur alles drumrum,
dass wir in sein Haus drangen
und es nach außen kehren, Dinge hinaustragen, in die Wände hacken, bohren,
uns an den Tisch setzen, Kaffee eingießen
und über Witze lachen. Zum Schein wird er allem zustimmen,
sehr bereitwillig,
zu bereitwillig,
aber in aufblitzender Erregung.
Er hat die Arznei nicht genommen. Angeblich vergessen.
Er kehrt zurück zu seiner Arbeit.
Mit enormer Konzentration, sorgsam, und doch zufällig
klebt er Schmirgelpapier auf ein Holztäfelchen.
Von der schlaffen Unterlippe wird ihm der Speichel rinnen,
immer wieder
tropft er herab,
langer weißer Speichel,
den er nicht einmal bemerkt
und der sich doch herauswälzt aus ihm.
alles muss gut durchdacht sein
lautet die Warnung,
sehr gut durchdacht sein, was man beginnt, damit es nicht sinnlos
beginnt! Wird er sagen und vor Augen
das Haus haben,
wenn auch etwas Anderes, etwas Allgemeines
Schmirgelpapier ist zum Schleifen da
wichtige Sache: Schmirgelpapier ist nun einmal zum Schleifen da,
das vergisst man leicht.
Doch gleich werde ich sehen, er unterschätzt mich nicht.
Er reißt ein Stück von dem Papier,
bestreut es dick mit Geschirrspülpulver,
tröpfelt Wasser darüber,
zerreibt es mit den Fingern dann zu einem Brei,
den wohl keiner außer uns beiden
je sich vorstellen könnte.
Grobe Körnigkeit
schäumt schmutzig.
Er mischt noch ein paar Spuckefäden bei,
Schluss mit den unnützen Hemmungen,
dabei ruft doch alles rundum nach Reinigung.
Und mit diesem scheußlichen grauen Brei beginnt er
die schmutzige Spüle zu scheuern, den Ofen, den Boden, die Becher,
eingetrocknete Flecken von Fett und Dreck,
vor nichts macht er Halt,
auch wird er bereits direkt auf den Boden spucken
und dabei Überlegungen kundtun, was Natürlichkeit ist
vor allem Natürlichkeit!
Eine Vorsehung,
was sonst,
nur hier noch ein bisschen durchputzen.
Denn vor allem und über alles hinweg
war es das Schmirgelpapier, das in die Weite das Weltall zerrieb,
und die Frage des Saubermachens
greift auch über auf das
durch und durch Saubere
nimm es mal aus der Perspektive dieses Schmirgelpapiers!
er wird mich ermahnen,
mir bedeutungsvoll zuzwinkern
und kontrollieren, streng prüfen, ob
ich auch begreife, dass er mir das nicht nur zufällig sagt,
sondern mit besonderer Absicht, nur für mich,
in Hinblick darauf, was lebenswichtig ist,
damit ich weiß
aus der Perspektive dieses Schmirgelpapiers
und des saubergemachten Tischs
sollst du das sehen
und plötzlich wird es dir klar
du erkennst die Zukunft
REALISIERE DAS!
Leider gelingt es mir nicht.
Das Gedächtnis fasst nur in Fetzen
und die zerfallen sowieso mit den Jahren
und verwirren
wie die Erinnerung an Weissagungen, einst hineingesprochen
in das donnernde Echo der Höhlen
denn man muss arbeiten
diese Funktion des Schmirgelpapiers überdenken
das erkennst du dann schon selbst
man sagt nicht umsonst
ERKENNE DICH SELBST!
Das wird er auf keinen Fall umsonst sagen.
In den Hörsälen, aus denen ich kam,
wo ich ein paar Jährchen versaß und verplauderte,
sagte man diesen Satz zuweilen her
in der Sprache des Originals, die so interessant klingt,
auch in Übersetzungen, die interessant klingen,
aber immer nur wie so ein Einfall, der
freilich auch hätte etwas bedeuten können, wenn es darauf ankommt,
während es hier ist,
als werde Staub, Rauch, Schimmel und Ekel durchblitzt
von Heraklit selbst
in letzter Konsequenz
von Ephesos her.
Ich verstehe:
gib acht, was geschieht, nimmst du dieses Papier in die Hand!
Ich verstehe:
die Körnigkeit des Schmirgels spiegelt die Körnigkeit der Welt und dich als Schmirgel in ihr.
Ich verstehe:
Abrutschen und Abreiben, Zusammensetzung, Aufscheuern und Flimmern, Zerbröseln und Staub.
Ich verstehe:
Auf der Hut sein!
Ich verstehe:
das entscheidende Detail, der einzelne Punkt unter Punkten,
der Umkehrpunkt.
František,
der Umkehrpunkt.
Er wird mich anschauen und Stroh aus der Matratze ziehen,
er spuckt auf den Boden, von dem sich Staubwolken erheben,
und beginnt ihn mit dem Stroh fieberhaft zu reinigen
Erkennen und Wissen sind zweierlei Dinge!
Was ich höre, werde ich nicht mehr glauben
Erkennen und Wissen sind zweierlei Dinge
und jetzt führe ich es dir vor
eben
dieses
Erkennen!
Er befeuchtet die Finger im Topf und dann, mit Schwung,
beginnt er Wasser auf den Boden zu sprengen
wie einer, der dem Staub befiehlt, sich zu legen und nicht zu ersticken.
Und der Staub legt sich, hört auf mich zu ersticken.
Denn darum geht es hier.
Um mich,
um meine Rettung,
schließlich wird mir bereits jedes Einatmen wehtun.
Und ihm entgeht das nicht,
Erkennen ist Freundschaft.
Er selbst sagt es mit diesen Worten
Erkennen ist Freundschaft
Dann werde ich ihn schon hinausführen,
fort aus diesem Haus, wo eine Meute Blaumänner
weitertoben wird, in die Wände hacken und Staub aufwirbeln,
das sollte er nicht mit ansehen,
ich werde mit ihm durch die Landschaft gehen im scharfen Frühlingslicht,
Flimmern ringsum, kahle Schatten von Stämmen,
Steinchen, auf den Weg geschwemmt, hemmend jeden Moment,
eine frische, edle,
noch ungeglättete Welt.
Derweil bin ich noch mit ihm,
fast,
aber dieses fast entscheidet.
Vergeblich wird er irgendetwas erklären,
Wörter sind ohnehin aus Zischlauten,
er zeigt über den Zaun auf einen Sandhaufen, er knirscht mit den Sohlen,
ich sauge scharf Luft ein und er
pflichtet gleich bei, ganz begeistert, dass ich endlich draufgekommen bin,
ist schließlich eine grundlegende Sache,
Atem und Staub, Scheuern und Flimmern,
Freundschaft und Scharfsinn.
Aber dieses knirschende
fast.
Noch in der Keramikwerkstatt
beim Warten auf den Psychiater
wird er sich Verbesserungsvorschläge ausdenken,
wie man Schleifpapier mit Farbe in den Lehm hobeln könnte
und daraus modellieren, die Produktion in Gang setzen
ich hab ja gewusst, was euch hier gefehlt hat!
und mit dieser Wahrheit, die alles ändert,
die alle bestehenden Erfahrungen überwindet,
führe ich František schließlich zur Aufnahme.
Auch damit noch lasse ich mich betrauen.
Erkennen und Freundschaft.
Durch und durch
oder fast.
Übersetzung aus dem Tschechischen: Martin MUTSCHLER, Hamburg
Die Deckel
(und als Bodhidharma entdeckte,
dass sich die Lider ihm von selbst verklebten)
Der zweite. Ich starre wie er stürzt
abprallt
und splittert, noch glaub ich es nicht
eine Weile noch scheint mir, es sei rückgängig zu machen
schon der zweite Deckel in fünf Tagen
es ist ausgebrochen
schon in der zweiten Teekanne ein Loch das
ich mit nichts schließen kann das
nach mir zielt das
Und am Boden die Scherben
Die Botschaft muss geschrieben werden mit deutlicher Schrift
vielleicht auch nachgezeichnet
Ich tue nicht so als verstünde ich nicht
Kommewaswolle chinesisch oder japanisch
hart so
dass es schwerlich könnte überzeugender sein
Und selbst wenn es die fehlerhafte Bewegung nicht gäbe
es komme selbst
Ich tue so als verstünde ich
ich hab es erreicht wie eine Wasserleitung
Ausgerissene Seiten
Die morgige Verabredung, kein Grund daran zu denken
Ich habe nur gegriffen, mich verlassen
dass beim grünen Tee wie schon so oft
mit der Verlagerung des zweiten noch des dritten Aufgusses
Verstehe ich dass ich nur so tue?
Schon hat es sich gelegt, das Wasser ist heiß
und wo nicht Unhaltbarkeit, da also ungreifbar
Es verfließen ein paar der kommenden Stunden
Ich denke, es dunkelt, es bleibt kein Licht
Den Abend kann man wohl erwarten
Das Klimpern eingerollter Blättchen
zartes Anklingen
das Knacken von Keramik, des zweiten Deckels schon
Erst am Gaumen verfließt es mir
Ein Stimmen. Komme
was Tee
Übersetzung aus dem Tschechischen: Martin MUTSCHLER, Hamburg