Daniel ODIJA: Wundermittel, Kurzgeschichte (Aus dem Polnischen von Christian NASTAL)

Erstveröffentlichung in: LICHTUNGEN 137/2014 (Graz), 30. April 2014
2. 5. 2014

Einleitung

Das wahre Leben – schwarzer Realismus – Polen B. Mit diesen Begriffen wird die Prosa von Daniel Odija (*1974) häufig beschreiben. Nach den beiden Romanen Ulica (2001) und Tartak (2003) – beide von Martin Pollack ins Deutsche übersetzt – führt Odija seine Leser mit der Kurzgeschichtensammlung Szklana huta (2005) erneut in die Randbereiche der polnischen Gesellschaft. Zeitlich überwiegend nach der Wende angesiedelt, sehen sich die Protagonisten mit ökonomischen Zwängen, Perspektivlosigkeit, Alkohol und Gewalt konfrontiert, auf die sie häufig mit Resignation reagieren. Mit lakonischen Milieuschilderungen und empathischen Beobachtungen zwischenmenschlicher und familiärer Bindungen zeichnet Odija die Bandbreite prekärer Lebensverhältnisse in Polen nach.

Mutter schluckte Mittel, deren Namen nach modernen Stadtstaaten klangen. Sie sollten bei Interessierten die Vorstellung von einem Reich des einfachen Glücks und wirkungsvoller Heiterkeit wecken. Slimfast, Bioschlank, Cambridge-Diät, super fat burn. Wortbildendes Gemisch, scharf wie Plastiklöffel für den Kaffeezucker und verständlich wie der Kampf der Schwulen ums Elternrecht.

Pulverisierte Aminosäuren, die die Fettresorption unterstützen. Extrakte aus exotischen Ananas und Grapefruits, die nach Meer und Palmblättern riechen. Auf den Verpackungen und Beipackzetteln Abbildungen vor und nach der Abmagerungskur. Vorher– ein fettes Weib mit Rettungsringen an Stelle eines Bauchs, klar – ohne Grund zur Freude, also ein umgedrehtes Hufeisen statt des neutralen Lächelns, das dieser Ballon, der wie ein Gesicht tut, zumindest für die Zeit des Fotoshootings hätte aufsetzen können. Nichts da, die sieben biblischen Plagen, Depressionen und Selbstmordgedanken. Als würde diese Pummelliese versuchen, ihr kaputtes Gebiss zu verstecken. Daneben ein Bild des Kurgastes nach dreiwöchiger Einnahme der Gewichtsreduktionsmittel –Hollywood-Lächeln, selbstsicher und ausgeglichen, als seien im blutroten Mund plötzlich die verschneiten Gipfel sanfter Hügel emporgewachsen, obendrein mit frostigem Kaugummiatem. Und die Figur erst, ein wahres Wunder! Am Computer gekonnt retuschiert. Ein Ausdruck mit Brust- und Hüftmaßen, die bis auf den Zentimeter übereinstimmen. Künstlich hergestellte Symmetrie, die als das natürliche Ergebnis der Einnahme der beworbenen Pharmaka verkauft wird.

Wundermittel, die die Verwandlung bleischwerer Komplexe in federleichtes Selbstempfinden garantieren und weder systematische Arbeit an sich selbst, noch nach den Einsatz von Zeit und Energie verlangen. Minimale Anstrengung, maximaler Effekt! Handlicher Stimulus für ein gutes Gewissen. Balsam für das Gewissen! Yoga vor dem Spiegel! Ein Loblied auf den geschmeidigen Köper und die gesunde Seele!

Obwohl Geldverlust und Gewichtszunahme die einzigen Effekte dieser Therapie sein konnten, glaubte Mutter daran und nahm das Risiko in Kauf. Eine Freundin besuchte sie mit einer riesigen Tüte voller Herbalife-Produkte. Die Präparate wurden von speziell geschulten Vertretern verkauft. Die Firma Herbalife verstand es, den legalen Vertrieb in Apotheken geschickt zu umgehen. Die Freundin – ein hübscher Rotschopf mit Sommersprossen – zählte zu den besten Verkäuferinnen der Firma. Ihre Menschenkenntnis half ihr bei den Geschäften. Sie war eine Meisterin ihres Faches. Sie wusste, was sich in jedem Haus in der Gemeinde abspielte. Ihr Verstand war in der Lage, die komplizierten Beziehungen unter den Einwohnern zu logischen Konstrukten zu verknüpfen. Das in langjähriger Praxis erarbeitete System von subtilen Nachforschungen und scheinbar harmlosen Fragen bereicherte unaufhörlich ihr Gerüchtearchiv. Die Leute erzählten ihr viel. Manche vertrauten ihr sogar Familiengeheimnisse an, wohlwissend, dass sie dank der Rothaarigen bald keine  Geheimnisse mehr sein und in entsprechend abgewandelter Form zu einer allgemein zugänglichen Information werden würden. Sie wollten, dass man über sie redet, und sei es etwas Schlechtes. Immer noch besser als Schweigen. Denn wenn niemand über dich redet, ist es so, als gäbe es dich nicht.

Die Rothaarige wählte mit uhrmacherischer Präzision einzelne Geschichten und schmolz sie im Tiegel ihres tiefgründigen Gehirns zu beunruhigenden Legierungen um. Mit dem gewonnenen Gemisch nährte sie eine Fantasie, die sich ihre eigene Mythologie erschuf. Die Mythen, verklärt und gekonnt vorgetragen, wirkten auf die Vorstellungswelt des ganzen Viertels. Niemand störte sich daran. Niemand war davon gelangweilt. Es war manchmal sogar spannender als die Geschichten über Leute, die den Fernseher bevölkern. Vor allem spannender als diese Märchen über die Filmstars. Nicht nur, dass sie im Fernsehen laufen, sie sind dazu auch irgendwie unwirklich, leicht verdächtig. Außerdem geht es da um ganz anderes Geld, andere Möglichkeiten, andere Frauen, andere Männer. Und dank der Rothaarigen wussten alle, dass dieser den da, die mit dem, und wenn das so war, dann natürlich dieser mit jener, na und dann diese dieser wegen dem, der dieser, aber wenn der nicht gewesen wäre, wäre das mit der niemals rausgekommen, aber jetzt, wo die über die Bescheid weiß, soll der doch vor der zittern, und der vor dem… Und so wusste man immer, um wen es ging.

In gewisser Hinsicht war die Rothaarige eine seltene Ausnahme. Es interessiert sich doch kaum jemand für die anderen. In der Regel konzentriert sich jeder auf sich selbst. Ganz anders sie – sie lebte vom Leben der anderen und tränkte sie mit ihrer Energie. Sie spürte jedes Anzeichen von Faulheit und Lustlosigkeit auf. Mit geradezu neurotischer Vitalität bewegte sie andere zum Handeln, damit endlich etwas passierte, damit die Leute nicht in tödlicher und langweiliger Stagnation verharrten.

Eine Zigarette nach der anderen rauchend und einen Kaffee nach dem anderen trinkend, konnte sie sich stundenlang an menschlichen Geschichten berauschen, tragischen und glücklichen, ungewöhnlichen und den gewöhnlichsten Geschichten der Welt. Sie erzählte sie sich weiter, übte sich in der Kunst, Schlüsse zu ziehen, analysierte und schälte aus mehreren Möglichkeiten eine heraus, die nicht einmal die wahrscheinlichste, aber wie sich später zeigte, eine, die von der Wahrheit nicht weit entfernt war. Denn die Rothaarige besaß den Spürsinn eines Jagdhundes, die Intuition eines wilden Tieres, den hoch entwickelten Sinn, aus nur winzigen Hinweisen eine Geschichte zu konstruieren.

Mutter war eine gute Zuhörerin. Sie hörte geduldig zu, vor allem, weil die Freundin ihr wegen der jahrelangen Bekanntschaft stets einen Nachlass gewährte. Selbstverständlich waren alle Mittel Sonderangebote. Mutter schluckte ganze händevoll an Pillen und löste die Pulver in Halblitergläsern. Vater sah das mit an und sagte nichts. Doch eines Tages gestand er ihr unüberlegt, während seiner Fahrten immer größere Probleme mit der Schläfrigkeit zu haben. Der Kaffe verliert seine Wirkung, von Red Bull und ähnlichem gar nicht erst zu sprechen. Vielleicht hätte die Freundin ja etwas dafür? Natürlich hatte die Freundin etwas.

- Mein Zenek, ihr wisst, was für ein fleißiger Kerl er ist, benutzt diese Pillen hier. Wenn er eine nimmt, lässt er mir die ganze Nacht keine Ruhe! – sie lachte schelmisch.

Vater traute Pillen nicht. Wenn er erkältet war, nahm er höchstens Vitamin C. Aber er hatte eine wichtige Verabredung in Tschechien und schaffte es nicht, sich nach der Feier von Onkel Beneks Namenstag auszuschlafen. Er sollte um Mitternacht losfahren, um gegen Morgen vor Ort zu sein. Er schluckte eine Tablette, die er von Mutters Freundin bekommen hatte und machte sich mit quietschenden Reifen auf den Weg. Nach einer Stunde begann er, die Müdigkeit zu spüren. Er schaffte es gerade noch, auf den Seitenstreifen zu fahren. Um seine Verzweiflung zu verstehen, muss man anmerken, dass Vater sehr selten auf den Seitenstreifen fuhr. Das passierte ihm nur in letzter Not. Beispielsweise, als er zum ersten Mal im Radio das Lied „Kombinat“ der Band „Republika“ hörte. Diesmal wusste er nicht einmal, wann er den Motor ausmachte, denn er schlief bereits.

Schweißgebadet wachte er auf. Im Auto war es furchtbar heiß. Der Innenraum war von Sonnenmagma erfüllt. An Stelle seines Kopfes befand sich eine tickende Zeitbombe. Er bewegte sich langsam, damit sie nicht explodierte. Endlich erreichte er mit der Hand die Klinke und öffnete die Tür. Kühlere Luft strömte ein. Er kam etwas zu sich. Dann schaute er auf die Uhr. Zwei Uhr am Nachmittag! Man kann nicht sagen, dass er nicht überrascht gewesen wäre. Ein Wundermittel eben, dachte er resigniert und griff nach dem Mobiltelefon.

Auszug aus „Szklana huta“  (Die Glashütte) von Daniel Odija (2005, S. 81-85)

Einleitung und Übersetzung aus dem Polnischen von Christian  NASTAL, Tübingen.

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