Gelesenes: Yoko Tawada (Berlin): Wo Europa anfängt

Krakau, Villa Decius, 16. Januar 2014
20. 1. 2014

»Übersetzen macht klüger«

Wo Europa anfängt. Lesung und Gespräch mit Yoko Tawada, Ines Hudobec und Magdalena Lewandowska am 16.01.2014 in der Villa Decius in Krakau

Sie sei keine gute Übersetzerin, beteuerte Yoko Tawada bescheiden, dabei wäre sie mit ihren Sprach- und Kulturkompetenzen geradezu prädestiniert dafür, kam die 1960 geborene Schriftstellerin doch als junge Frau mit der transsibirischen Eisenbahn in den Westen, über Russland und Polen, bis sie in Deutschland anlangte. Heute könnte sie neben fremden sogar ihre eigenen Werke ins Japanische respektive ins Deutsche übersetzen, doch scheint sie mehr am Prozess des Über-setzens als Zustand des „Dazwischen“ interessiert. Dieser Prozess scheint geistige Kräfte zu aktivieren (Y.T.: »Übersetzen macht einen klüger. Der Mensch kann über alles besser nachdenken.«). Tawada übersetzte nach eigenen Angaben einen deutschen Text ins Japanische, um im Japanischen einen neuen Stil zu entwickeln. Ausserdem schreibt sie häufig über Ereignisse, die in Deutschland passieren, auf Japanisch und vice versa. Über sehr intime Personen wie ihre Eltern schreibt Tawada ausnahmslos auf Deutsch, das helfe ihr, die nötige Distanz zu schaffen. Sie macht sich als Autorin die Unterschiede zwischen den Sprachen zu Nutze und praktiziert das Übersetzen als Mittel der Verfremdung.

Aus einem Text werden durch Übersetzung mehrere Texte. Der Germanist Paweł Zarychta, Moderator der Diskussion, versuchte, Tawada auf das Thema Europa zurückzubringen (wohl ein Zugeständnis, die Veranstaltung inhaltlich an die auch finanzielle Mutter Europa zurückzubinden), doch ihre Texte wie ihr Sprechen verweigern sich pauschalen Aussagen. Wo es keinen Osten gibt wie in Japan, erübrigen sich unsere kleinteiligen Grenzen zwischen ganzem, mittlerem und jedem anderen möglichen Osten. Dennoch formuliert sie klar: “Europa ist ein Projekt”. Es reflektiere sich ständig selbst, man könne daher nicht aufhören, darüber nachzudenken. Es trägt sein steinernes Gedächtnis immer mit sich herum.

Auch Yoko Tawadas Übersetzerinnen ins Kroatische und Polnische, Ines Hudobec und Magdalena Lewandowska, weichen den Fragen nach Europa aus, als wäre auch Europa nur eine weitere “Halluzi-nation” (Tawada). Stattdessen: ein freies Gespräch zur Überfahrt von Gedanken auf den vielverzweigten Flüssen zwischen den Sprachen. Geschichtsschreibung findet hier in Märchen statt, wer die Matrjoschka wie eine Zwiebel schält, wird auf eine japanische Totenpuppe stossen. Die Gedanken kehren zurück in den Osten; dieser ist keine definierte Richtung, sondern ein Denkversuch.

“Frau Yoko” – “pani Yoko” – sagt die polnische Dolmetscherin. Wie ehrwürdig eine solche Anrede im Slavischen wird! Schade, dass von diesen Sprachwirren und -wirbeln nicht noch mehr zu hören war. Dabei hatte Yoko Tawada es selbst in jedem Satz mit formuliert: Pflegt die Differenzen! Lobt die schwarzen Löcher der Sprache!

Franziska Mazi und Martin Mutschler (Hamburg/Basel)

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