Martin Mutschler: Im Hrabal-Kabuff
Bohumil Hrabals Erzählung „Zauberflöte“ (Kouzelná flétna) ist ein berüchtigter Text. Hrabals ganzes Werk ist voller Anspielungen auf Selbstmorde aller Arten, auf berühmte Vorgänger, die sich suizidieren konnten (oder nur wollten), doch war es dieser kurze, erst 1989 entstandene Text, der beim Tod des Autors 1997 immer wieder zitiert wurde, denn dort ist explizit vom Sprung aus dem fünften Stock die Rede. Auch Hrabals Zimmer im Prager Bulovka-Krankenhaus befand sich im fünften Stock, er hatte nicht darum gebeten. Ist er also gesprungen oder fiel er beim Taubenfüttern (wie bis heute immer wieder erklärt wurde)? Vieles deutet auf einen Sprung, und wütend verwarf Susanna Roth, seine langjährige Übersetzerin, anderweitige Verharm-losungen: Hrabal habe nicht mehr leben wollen!
Warum ich so weit aushole, um über ein scheinbar kleines Übersetzungs-problem zu berichten (auf das ich in einem Seminar zum literarischen Übersetzen gestoßen bin)? Weil in dem Text des über 70jährigen Autors soviel Weltschmerz steckt, will heißen, soviel Schmerz an der Welt. Der erste Satz benennt sie gleich, diese Verwundung – will heißen, Wundheit – am Rande der Depression:
Manchmal wenn ich aufstehe, wenn ich aus der Ohnmacht wiedererwache, schmerzt mich das ganze Zimmer, mein ganzes Kabuff, schmerzt mich der Blick aus dem Fenster, Kinder gehen in die Schule, Leute gehen einkaufen, jeder weiß, wohin er gehen soll, nur ich wüßte nicht, wohin…
Das tschechische Original ist noch knapper gefaßt:
Někdy, když vstanu, když procitám z mrákot, bolí mi celá místnost, celá má cimra, bolí mi pohled z okna, děti jdou do školy, lidé jdou nakupovat, každý ví kam má jít, jen já nevím kam bych šel…
Hrabals Stand als Schriftsteller des Volkes, der kleinen Leute, der Stammgäste „Zum Goldenen Tiger“ (U zlatého tygra) in Prag läßt leicht vergessen, daß seine Texte eine eigene poetische Wirkkraft haben, daß er wie kaum ein anderer die tschechische Sprache hat klingen lassen durch einen Erzählstrom, den man beim Übersetzen bewahren muß. Dieser Strom wurzelt im „Bafeln“ (pábení) der einfachen Leute, im Erfassen der Welt mittels dieses ungefilterten Sprechens. Aus diesem längst legendär gewordenen Erzählen gewann Hrabal seine Inspiration, man darf aber nicht außer Acht lassen, daß seine Texte Destillate dieser Sprechform sind, kunstvoll gewobene Teppiche.
Der fast lakonische Beginn dieser Erzählung, die Hrabal nach der Samtenen Revolution in die Sammlung „Novembersturm“ (Listopadový uragán) aufgenommen hat, steht dazu in keinem Widerspruch, Hrabals vermeintlicher Redseligkeit zum Trotz sind die Worte wohlgewählt. Umso mehr fällt dann eine Wendung ins Auge, die fast einer Wieder-holung gleichkommt: „celá ma cimra“ („mein ganzes Zimmer“) als Ergänzung zum vorigen „bolí mi celá místnost“ („es schmerzt mich der ganze Raum/das ganze Zimmer“). Sie fungiert in erster Linie als Verstärkung oder als Korrektur: als wollte der Erzähler sagen, daß das gewöhnliche, sachliche „místnost“ nicht ausreicht, daß ein anderer Begriff her muß, um seine Lebensbedingungen zu beschreiben, sein Elend zu benennen. Also wählt er den Germanismus „cimra“, den wir freilich im Deutschen nicht mit dem ebenfalls neutralen „Zimmer“ wiedergeben können (zumal sonst leicht eine unschöne Doppelung eintritt). Wie viele Germanismen im Tschechischen gehört es dem Slang an, der Straße, ergo dem Privaten. Das Slovník Spisovného Jazyka Českého, eines der Standardwörterbücher, weist auf seine Verwendung für Amts- oder Gefängnisstube hin; „vojáci na cimře“ – „die Soldaten auf der Stube“, so ein Beispiel.
Ich habe mich dennoch für das saloppe „Kabuff“ entschieden, denn wo eine Amtsstube unwohnlich, zweckdienlich, kalt ist, erwehrt sich auch das deutsche „Kabuff“ alles Heimeligen, Wärmenden. Es ist das Zuhause eines vor sich selbst im Spiegel erschreckenden Erzählers, eines in der Menge der auf und abfahrenden Rolltreppen Verlorenen, eines Mannes, der nur noch von seinen Kätzchen am Leben gehalten wird, die er füttern geht weit hinter Prag (so weitere Schlaglichter des Textes).
Auch Hrabal fuhr, über Jahrzehnte bald, hinaus in die Waldsiedlung Kersko, wo viele seiner Texte entstanden. Der Erzähler ist eine fiktive Figur, doch hier wird sie fast vollständig überblendet von Hrabal, dem Menschen. Und der eine ruft dem anderen geradezu herausfordernd zu: „Hrabal, Hrabal, Bohumil Hrabal, so hast du dich ganz besiegt“.
„Celá ma cimra“ hat im Tschechischen eine klangliche Qualität, die das Deutsche freilich nicht einholen kann. Allerdings meine ich, daß das schnoddrige „Kabuff“ mit seiner hüpfenden Endsilbe dem geglätteten Text eine Spitze zurückschenkt. Daher meine Wahl: In Hrabals später Welt müssen auch die Wörter schmerzen. 1989 ist Hrabals Ehefrau schon zwei Jahre tot, auch die alten Freunde… Es sind ihm wirklich nur die Kätzchen geblieben.
„Die Zauberflöte“ ist in der Übersetzung Susanna Roths als Einzelausgabe im Suhrkamp Verlag erschienen.
Am 28.3. mit Bus 398 nach Kersko gefahren, dort außer dem Wirt im Gasthaus Hajenka keinem Menschen begegnet. Wolken, Birken, Kiefern, Katzen – bellenden Hunden eingezäunt. Der Busfahrer hat gebafelt.