Einleitung
Der Band Možná že odcházíme (Vielleicht gehen wir weg) ist eine Sammlung aus 20 einzelnen, kurzen Erzählungen. In den Texten legt Balabán den Fokus auf die Tragik individueller menschlicher Schicksale und konzentriert sich dabei oft auf Schlüsselmomente im Leben seiner verloren wirkenden Anti-Helden. Dabei seziert er nicht alles bis ins Detail, sondern skiziiert ein Gesamtbild, das dem Leser viel Raum für das eigene Erleben lässt. Durch seine Sprachkraft entwirft Balabán sowohl bildlich, als auch klanglich in sich stimmige Kompositionen. Der Erzählband wurde in der Umfrage der tschechischen Tageszeitung Lidové noviny zum „Buch des Jahres 2004“ gewählt. Im Jahr 2005 bekam Balabán für Možná že odcházíme den Magnesia-Litera-Preis in der Kategorie Prosa.
[...]
„Es ist noch Zeit!“ Die schwefelgelben Ziffern des Weckers zeigten zehn nach vier. „Es ist noch Zeit!“
Emil beruhigte sich mit der Vorstellung, dass er noch mindestens drei Stunden nicht würde aufstehen, sich nicht würde bewegen müssen. Die Ränder dieser Aussicht trübten sich jedoch bei dem Gedanken daran, dass es schon in zwei Stunden losgehen würde. Die Geräusche der Straße würden kommen, die Lastwagen würden aus den Depots herausrollen, die Elektrischen sich in Bewegung setzen wie Spielzeugbahnen, wenn man die Batterien verbindet. Die Müllmänner werden unter den Fenstern lärmen. Dazu noch die Geräusche des Hauses. Hinter den Mauern werden sich die Menschen bewegen, Toiletten werden spülen, und in den Bädern wird Wasser rauschen. Schritte auf der Treppe. Ach. Er zog sich die Decke bis unters Kinn.
Und dann die Geräusche der Wohnung. Der Hund kratzt an der Türe. Er will Gassi gehen. Die Kinderbetten knarren. Die reglose Frau auf der Matratze neben ihm bewegt sich…bewegt sich nicht! Zuversichtlich tastet er nach ihr; sie war nicht da.
Das passierte ihm immer wieder. Er vergaß immer, wo und wie es mit ihm war. Nein, das ist keine Sache des Vergessens, im Gegenteil – des intensiven Erinnerns. [...] Davor muss er sich retten und retten kann ihn nur ein Traum. Es ist noch Zeit. Ich zwinge ihn mir herbei, sagt er sich. Ich zwinge mich in ihn hinein. Schließlich bin ich Dramatiker, ein Regisseur der Bilder. Ich bin eine Traumfabrik.
Ich setze meinen alten Wagen in Bewegung. [...] Die Lichter der letzten Ortschaft verschwinden im Rückspiegel. Ich fahre durch einen dunklen Tannenwald. Ich blicke auf und sehe einen Streifen indigoblauen Himmel mit dem schwarzen, zackenförmigen Rand der Koniferenwipfel. Ich fahre dort hinauf, wo der Wald endet, wo die Tannen vor dem peitschenden Meereswind in die Knie gehen und nur noch Gebüsch bleibt. Weiter zieht sich das Kap nur mehr als felsiger Kamm, an dessen Ende aus der dunklen Brandung des Meeres ein Leuchtturm ragt. An ihm strahlt mit klarem Licht die Lampe, um die ich mich kümmere.
Vor dem Turm halte ich an. Ich steige aus dem Wagen, die Windstöße sind zu scharf für meine Lungen. Im Windfang der Garage zünde ich mir eine Zigarette an. Ich fahre das Auto hinein und bedecke es mit einer Wachsplane. Reiße mit dem Wind um die Wette an den Flügeln der Tür. Kann endlich den Riegel vorschieben. Ich schaue auf die Uhr. Es ist zehn nach vier. Zeit genug. Im Wind höre ich den Mechanismus des Turms arbeiten. Ich gelange bis an die kleine steinerne Mauer am Ende der Klippe. Auf dem Kamm der schwarzen Wellen zeigt sich der graue Schaum des nahenden Tagesanbruchs. …
Ich hebe den Blick und erkenne das Licht des Leuchtturms auf der gegenüberliegenden Seite. Die Häuschen, schlafend wie eine zur Nacht gekauerte Schafherde, stelle ich mir nur vor. Von ihnen führt eine lange, lange Betonmole zum Meer, an ihrem Ende der gestreifte Stahlkamin des zweiten Turms mit einer Lampe oben drauf.
Wenn ein Lotse unsere beiden Lichter zur Orientierung bekommt, führt er seinen Kiel sicher zwischen den Felsen hindurch, bis der dritte Leuchtturm in Sichtweite kommt, der auf dem Kap seitlich des Berges verborgen liegt.
Es ist eine klare Nacht, nicht nötig die Nebelsirene zu starten, die über meiner gemütlichen Wohnung im Fuße des Turmes heulen würde wie ein verletztes Tier, das in der Klippe hängt. Heute kann ich in aller Ruhe bei einer Tasse Tee sitzen und auf die Ankunft der ersten Vögel warten wie jeden Tag. Deshalb bin ich hier, um bei einem starken, süßen Tee aufs Meer hinaus zu schauen und die Vögel zu beobachten. Ich schreibe ein Buch über sie. An den Nistplätzen der Vögel verbringe ich nun schon das zehnte Jahr. Das zehnte Jahr halte ich meine Laterne gefüllt, und schreibe Briefe an eine Frau, die sich auch mit Meeresvögeln beschäftigt. Sie ist wunderbar, wie ein Alk, schön wie ein Basstölpel, und ihre Briefe falten sich wie Albatrosflügel.
Am Morgen nach der Ebbe steige ich hinunter zum Strand. Der Himmel hat sich zugezogen. Aus einer hohen Wolke regnet es fein auf den Sand, den die Wellen zu einer festen Fläche pressen.
Auf den Wellen erscheint ein Boot, ein schnelles, modernes Motorboot. Auf ihm eine einzige Person, ein Mann, ein Matrose. Ich habe ihn noch nie gesehen und werde ihn nie wieder sehen, denn ein Boot kann hier nicht anlegen, höchstens zerschellen. Du winkst, du schreist vergeblich, machst Zeichen… an mein Ufer kannst Du nicht. Von dieser Seite aus kann niemand zu mir, nur die Vögel.
Emil erwachte zum zweiten Mal. [...]
Balabán, Jan: Emil, in Možná že odcházíme, S. 155-159, Host Brno 2010.
Einleitung und Übersetzung aus dem Tschechischen von Magdalena BECHER, Düsseldorf