Norbert Randow (*1929 in Strelitz, †2013 in Berlin)
Foto © Gaby Waldek
»Fragen Sie mich aus, noch bin ich da.« Norbert Randow wusste, dass ich Fragen an ihn haben müsste, er spürte, dass ich Hemmungen hatte, sie loszuwerden, und er machte sich keinerlei Illusionen über seine verbleibende Lebenszeit. Natürlich hatte ich Hemmungen angesichts der ersten persönlichen Begegnung mit dem gut achtzigjährigen »Doyen unter den Übersetzern weißrussischer Literatur in Deutschland« (Ingo Petz). Augen und Geist blitzwach, im Rücken eine imposante Publikationsliste als Übersetzer aus dem Bulgarischen, Belarussischen und Kirchenslawischen, als Herausgeber und Slawist, Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, Bundesverdienstkreuz am Bande, dazu einen bemerkenswerten Lebenslauf. Ich saß gerade an meiner ersten größeren Prosaübersetzung aus dem Belarussischen und kannte die Klassiker – wenn überhaupt – nur aus seinen Übersetzungen.
Norbert Randow ist nicht mehr da, er ist ungefragt verstorben.
Foto © Ingo Petz
Erstmals begegnet bin ich dem Namen Norbert Randow in meinem Grundstudium an der Universität Leipzig auf der Literaturliste zum Seminar »Weißrussische Gegenwartsliteratur« im Sommersemester 2002, gehalten von Dr. Ingrid Schäfer. Er firmierte dort als Herausgeber der Anthologien Störche über den Sümpfen. Belorussische Erzähler (Berlin: Volk und Welt 1971), sowie, Pflichtlektüre für unser Seminar, Die junge Eiche. Klassische belorussische Erzählungen (Leipzig: Philipp Reclam jun. 1987). Ich habe mir beide Bände sofort antiquarisch besorgt und nicht schlecht gestaunt über die schiere Menge der dort versammelten Autoren. Leider habe ich damals via ZVAB die billigste Störche-Ausgabe ohne Schutzumschlag erstanden.
Kurze Zeit später stieß ich in einem der Leipziger Buchantiquariate auf die Märchen des Lebens von Jakub Kolas in der wunderbaren Ausgabe mit Aquarellen von Władysława Inwańska, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von, natürlich, Norbert Randow (Berlin: Buchverlag Der Morgen 1989). Er begegnete mir wieder als Beiträger zum Annus Albaruthenicus, jenem vielsprachigen Wunderalmanach der Villa Sokrates. Als ich den Herausgeber Sokrat Janowitsch beim belarussischen Trialog im ostpolnischen Urwald kennenlernte, schwärmte er von Randows tadellosem Belarussisch, bedauerte, dass dieser die Reise zu ihm nicht mehr auf sich nehmen wollte und gab mir ausgewählte Neuerscheinungen für ihn mit.
Wir begegneten uns schließlich nach der Präsentation des Belarussisch-deutschen Wörterbuchs im Literaturhaus in der Fasanenstraße, auch seine Frau Theda und sein (mir namentlich natürlich ebenfalls längst auffällig gewordener) übersetzender Schwager Uladsimir Tschapeha waren mit dabei. Randow hatte Schätze aus seiner Sammlung belarussischer Wörterbücher vorgestellt und über die Herausgabe seiner beiden Anthologien in der DDR gesprochen. Bei dieser Gelegenheit hatte er auch mit sichtlicher Genugtuung die versteckten Innenseiten des Störche-Schutzumschlags nach außen gekehrt, auf denen die erste Garde belarussischer Literaten abgebildet war, von denen ein beträchtlicher Teil Stalins »Säuberungen« zum Opfer gefallen war. Ein Unding in der DDR des Jahres 1971! Aber, wie Andreas Tretner in seinem Randow-Porträt so treffend formulierte: »Was nicht ging, wurde sorgsam zum Gehen gebracht.«
Der große Randow zeigte sich ernsthaft interessiert am kleinen Übersetzernachwuchs, fragte nach den Gründen für das Interesse am Belarussischen und vermutete eine Frau im Hintergrund. Er interessierte sich für die Übersetzung von Alhierd Bacharewitschs Roman Die Elster auf dem Galgen, an der ich damals arbeitete, gab sich allerdings überzeugt, man müsse bei den Klassikern anfangen. Ohne Maxim Harezki und seine Zwei Seelen sei Belarus nicht zu begreifen und alles Bemühen um die Gegenwartsliteratur vergebens. Die Zwei Seelen – noch so ein Klassiker, den ich nicht gelesen hatte – lagen freilich schon längst übersetzt und lektoriert in seiner Schublade, er wartete nur noch auf einen namhaften deutschen Verlag, drunter wollte er es nicht machen.
Als ich ihn endlich zu Hause besuchte, bat er mich Platz zu nehmen, um mir sogleich mit einer unaufdringlichen Mischung aus Stolz und Beiläufigkeit mitzuteilen: »Auf diesem Sessel hat Bykau gesessen.« Randow führte mich durch seine sagenhafte Belarus-Bibliothek und sorgte sich um deren Verbleib. Die wertvolle Bulgaristiksammlung hatte die Humboldt-Universität übernommen – in Bulgarien wurde und wird er als Übersetzer und Mittler verehrt – die Belarussistik, das »Stiefkind der Slawistik«, wollte so recht niemand haben. Komplette Zeitschriftenjahrgänge, längst vergriffene Erstausgaben, literatur-, kultur- und sprachwissenschaftliche Arbeiten auch englischsprachiger Belarussisten, Werkausgaben, Wörterbücher, Lexika, Lyrikbändchen, Korrespondenzen … Regal um Regal, reich bestückt bis unter die Decke. Und die Decken sind hoch in den Altbauten in der Rathenower Straße.
Beim Buchbinder wenige Häuser weiter waren noch ein paar Bände in Arbeit, deren Rücken mit den Jahren ähnlich gelitten hatten wie der des Meisters. In der Restekiste am Eingang fand sich noch ein Büchlein, das interessierte und mitgenommen werden musste.
Das Interesse war da, bis zuletzt. Im März 2013 kam er zu unserer Vorablesung aus Viktor Martinowitschs Paranoia in den Belarus-Salon, freute sich über die belarussischen Neuerscheinungen im Hause Suhrkamp (und grollte zugleich, dass sein Harezki lag und lag). Ich schenkte ihm Die Elster auf dem Galgen, sie sollte in seiner Bibliothek nicht fehlen.
Unmittelbar vor der Frankfurter Buchmesse 2013 erfuhr ich von Ingo Petz, dass Norbert Randow gestorben war. Er war nicht mehr da. Ich hatte ihn nicht ausgefragt. Die Bibliothek war noch nicht versorgt. Für Harezkis Zwei Seelen war noch immer kein Verlag gefunden.
Im Herbst 2014 ist die Übersetzung im Premierenprogramm des Guggolz-Verlags erschienen, wunderbar aufgemacht, mit angemessener Würdigung der Übersetzer und Nachworten von Martin Pollack und Andreas Tretner.
Nach einigem Hin und Her um die Belarus-Bibliothek fügte sich plötzlich alles ganz wunderbar, Dr. Sophia Manns-Süßbrich von der Leipziger Universitätsbibliothek Albertina sei Dank. Ich bin glücklich, dass ich mit meiner Vermittlung dem Meister diesen Dienst noch erweisen konnte. Die komplette Sammlung wird in die Slawistikbestände eingearbeitet und ist dann allen Nutzern zugänglich.
Ich habe Theda Tode noch zweimal besucht, um die Übergabe der Bibliothek mit vorzubereiten. Sie hat mich durch die Regale geführt und die akribische Sammelwut ihres Mannes wiederholt einen »köstlichen Wahnsinn« genannt. Nein, nicht köstlich, aber es war etwas in der Art. Liebevoll, kopfschüttelnd, mittragend.
Ich werde sie noch einmal nach dem Wortlaut fragen.
von Thomas Weiler
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