Jurko Prochasko: Warum sich mit ukrainischer Kultur beschäftigen?

1. 11. 2015

Erschienen als Beitrag zum Projekt “Übersetzungswürfel – Sechs Seiten europäischer Literatur und Übersetzung” im Magazin Nr. 25 der Kulturstiftung des Bundes.

Jurko Prochasko

Warum sich mit ukrainischer Kultur beschäftigen?

Gedanken zu einer Theorie unauratischer Kulturen

Viele Begegnungen bergen die Gefahr, in eine Beziehung zu münden. Jede Auseinandersetzung verrät bereits immer eine. Umgekehrt: Jede Beziehung setzt ein Interesse, eine Auseinandersetzung, eine Beschäftigung miteinander voraus.

Ließe man sich einmal ernsthaft auf die ukrainische Kulturgeschichte ein, würde man ziemlich schnell feststellen, dass alle ihre Hauptentwicklungslinien und zentralen Episoden integrale Bestandteile der gesamteuropäischen Kultur und Geschichte, ja von ihr gar nicht wegzudenken sind. Ohne den gesamteuropäischen Kontext ist die gesamte „ukrainische Idee“ nicht zu erklären, ohne sie ergibt sie keinen Sinn, bleibt sie ein Torso. Bloß: Was ist diese „gesamteuropäische Kultur“? Wer definiert sie und wie verorten wir darin die ukrainische Kultur?

Man hat im westlicher gelegenen Europa zur Ukraine, ihrer Kultur und Geschichte in der Regel keine richtige Beziehung, genauer, so gut wie keine, und ganz ehrlich: eigentlich überhaupt gar keine. Man hat sich mit dem Land kaum beschäftigt und beschäftigt sich auch weiterhin kaum mit ihm. Warum auch? Man stellt sich die Ukraine als ein sehr junges Land vor (das sozusagen gerade erst auf der Landkarte aufgetaucht ist), bar jeder Geschichte. Trotz seiner Größe ist es nicht ausreichend gewichtig, es ist zu wenig interessant, zu wenig geheimnisvoll und nicht sexy genug, als dass man sich mit ihm befassen müsste. Seit den jüngsten Ereignissen hält man es vielleicht allenfalls für gefährlich. Lohnt es sich überhaupt, sich auf Länder wie die Ukraine einzulassen? Kann man kulturell von ihnen profitieren? Oder wäre das nicht sogar kontraproduktiv: Vielleicht macht einen das nur depressiv, wenn man sich mit dem ganzen Ausmaß an erahnbaren Tragödien auseinandersetzte, die sich dort abspielten und vielleicht immer noch abspielen, von denen man besser gar nichts wissen will?

Es scheint komfortabler, in diesem liebgewonnenen Unwissen zu verharren, denn damit bleiben alle Möglichkeiten offen: Eine herrliche Fremdheit, am besten sogar Exotik, die die Überzeugung bestärkt, das alles gehöre nicht dazu, das alles habe mit uns nichts zu tun. Will man wirklich diese Flächen opfern, auf die sich so herrlich projizieren lässt?

Meist beschäftigt man sich ja mit einer Gegend, weil diesem Land, dieser Stadt eine bestimmte Aura vorausgeht. Je klarer die Kontur dieser Aura, desto strahlender ist sie. Mit Wien geht es uns so oder mit Andalusien oder mit Samarkand.

Diese Aura beruht auf sedimentiertem Geschichtswissen und funktioniert auch, ohne dass oder bevor man sich mit der Kultur auseinandersetzt. Voraussetzung dafür ist, dass die Geschichte für wichtig erachtet wird. Das wiederum hat mit dem Gewicht eines Landes zu tun. Gewicht wird gemessen entweder am heutigen (geo-)politischen Gewicht oder am Gewicht des Beitrags für die Menschheitskultur.

Die Ukraine gehört nicht zu den Ländern mit Gewicht. Ihre Geschichte wird jenseits der Landesgrenzen nirgendwo gelehrt oder gelernt. Man weiß dementsprechend auch nichts von der dortigen Kultur. Die Ukraine gehört zu den Ländern, denen so gut wie keine Aura vorauseilt. Von diesen unauratischen Ländern gibt es mehrere – um nur in Europa zu bleiben: die Slowakei, Albanien, Belarus, Moldawien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Rumänien, Bulgarien, Slowenien, Litauen, Lettland, Estland … Ungarn und Polen beispielsweise gehören bereits einer anderen Kategorie an, weil sie zwar keine heutigen, aber sehr wohl die Großmächte von einst sind. Sie haben historisches Gewicht.

Je weniger Aura ein Land umgibt, umso mehr Platz gibt es für negative Stereotypen (denn Aura bedeutet in den meisten Fällen nichts anderes als positive Klischees).

Kommt es in diesen unauratischen Ländern zu Revolte, Krieg oder Gewalt und dauern diese dann lange genug, so dass auch das fernere Ausland begreift, dass nicht nur das Ursprungsland, sondern auch Länder oder größere Gebiete der auratischen Kultur betroffen sind, ist man zunächst gezwungen, sich mit dem aktuellen Geschehen dort auseinanderzusetzen. Eskaliert die Gewalt und wird das Geschehen zu unübersichtlich, beschäftigt man sich allmählich auch mit der Geschichte des Landes. Wird die Situation schließlich als bedrohlich empfunden, befasst man sich auch mit seiner Kultur. Denn Kultur wird gemeinhin dem Krieg entgegengesetzt, man erblickt darin das Gegengewicht und Mittel gegen Krieg und Gewalt schlechthin. Ob dies nun wirklich so ist, sei dahingestellt, die Illusion aber wollen wir aufrechterhalten. Auffallend ist, dass die Frage nach der Kultur unauratischer Länder sich erst dann stellt, wenn dort etwas passiert, was nich nur das Dort, sondern das auratische Hier bedroht.

Dieser Umstand verrät etwas über das Verhältnis von Gewalt, Kultur und Wahrnehmung. Gewalt ist ein wichtiges Fundament, ja offenbar eine unabdingbare Voraussetzung „großer Kulturen“. „Kleine Kulturen“ werden oftmals erst durch Gewalt wahrgenommen. Das ist kein Wunder – denn auch die großen (auratischen) Kulturen basieren auf Gewalt. Flämische Tapisserien, Tizian-, Velásquez- und Rubensbilder, Kunst-, Schatz- und Rüstungskammern, antike, orientalische und ethnologische Sammlungen, die exzeptionelle Dichte und Qualität von Kirchen, Klöstern, Schlössern und Palais, von herrlichen und herrschaftlichen Gartenanlagen, Orangerien, das Niveau von Universitäten, Akademien und Bibliotheken, erstklassige Museen und Galerien sind eben nicht einfach so gegeben. Sie sind fast immer Folgen einer imperialen Herrschaft, fast immer in Vielvölkerreichen. Oder zumindest im Raum einer Großmacht.

Auch in der Ukraine ist viel entstanden: Ikonen, byzantinisch geprägte Romanik, Heldenepen, Holzkirchen, bestickte Blusen, Gogol, Bulgakow, Malewitsch, Celan, Bruno Schulz, Joseph Roth. Aber alles, was seinen Ursprung in der heutigen Ukraine hat, ist zugleich Vielvölkerimperien geschuldet oder verdankt, in diesem Fall mehreren zugleich. Diese Tatsache wird nicht mit der ukrainischen Kultur in Verbindung gebracht, weil die Ukraine als politisches und historisches Gebilde nie eine Rolle gespielt hat.

Umgekehrt kennen auch die Ukrainer die „eigene“ Kultur nicht gut genug, um daraus eine narzisstische Ressource zu machen. Sie sind allzu oft hin- und hergerissen zwischen kompensatorischem Größenwahn ( ~ Unsere Kultur ist die älteste und alle wichtigen Künstler sind in Wirklichkeit Ukrainer) und resignativer Verzweiflung (~ Es ist alles nichts, wir haben gar nichts vorzuweisen; wenn man sich messen wollte mit den „richtigen“ Kulturen, wäre es ein einziges Desaster; lieber gleich aufgeben und sich einer großen und bedeutenden Kultur anschließen).

So offenbart sich ein weiteres Phänomen: unsere Neigung, die kulturellen Errungenschaften ehemaliger Vielvölkerreiche mit der Titular-, sprich Imperialnation gleichzusetzen, und die Kulturen aller anderen Völker entweder gar nicht zur Kenntnis zu nehmen oder auf schiere Folklore, auf die bäuerliche Kultur zu reduzieren. Österreich ist heute Kultur pur, die Ukraine ist kulturelles Niemandsland.

Es bedurfte Revolten, damit man auf ein europäisches Land wie die Ukraine aufmerksam geworden ist. Es bedurfte eines Krieges gegen dieses Land, als Strafe für die versuchten Revolten, bis man nun anfängt, nach seiner Kultur zu fragen. Da ist er wieder, der intime, der psychologische Zusammenhang zwischen Gewalt und Kultur, der sich in unserer Neigung offenbart, „große“, „richtige“, „hohe“ Kulturen mit den (post-)imperialen gleichzusetzen. Dabei mag noch so viel historische Aufklärung und Aufarbeitung geleistet worden sein, mögen Eroberungen, Kriege, Unterjochung noch so scharf wie scharfsinnig veurteilt werden – die Faszination (post-)imperialer Kulturen scheint darunter überhaupt nicht zu leiden, als wären sie ein besonderer, von allen gewaltsamen Aspekten isolierter Bereich des reinen und unbefleckten Geistes. Auf die (post-)imperiale Kultur kann man ohne schlechtes Gewissen stolz sein. Ja mehr noch, gerade die Gewalt macht diese Kultur sexy.

Einerseits postuliert man Gewalt und Kultur als Gegensätze. Andererseits kommt das imperiale Denken wieder durch die Hintertür herein: In der Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie feiert es fröhliche Urständ und hält sich hartnäckig. Der Tendenz, Kultur als zentral oder peripher zu lokalisieren, und diese Loci dann zu verewigen, ist nicht beizukommen. (Kultur-)„Metropole“ und „Provinz“ gehören – entgegen jedem Anschein und trotz aller Konjunktur – in Wirklichkeit zu den am wenigsten reflektierten Begriffen.

Diese peripheren, unauratischen Länder stehen im Abseits der öffentlichen Wahrnehmung. Das offenbart eine traditionelle Schwäche sowohl des Westens als auch des ihm in seinem Kanon nacheifernden Restes der Welt: die Schwierigkeit bis Unmöglichkeit, sich eine wirklich attraktive Kultur anders vorzustellen als (post-)imperial.

Diese mangelnde Fantasie verdeckt eine Reihe von Schwierigkeiten, denen man sich nicht stellen will. Eine wirkliche Auseinandersetzung kostet Mühe, und man ist nicht sicher, ob dieser Aufwand sich lohnt. So wehrt man sich gegen die Komplexität mit zwei Strategien: Entweder man erklärt die ukrainische Geschichte für zu unübersichtlich und folglich für unverständlich. Man kapituliert vor der komplexen Anforderung, ein Narrativ für die ukrainische Kultur zu entwickeln. Oder man ordnet sie anderen, den „wirklichen“ Geschichten (der russischen, der habsburgischen) als Unterkapitel zu.

Beides macht etwas ganz offensichtlich: die kardinale Schwierigkeit des Westens, sich – trotz aller Beteuerungen, der Arbeit an sich und seinen verdrängten hegemonialen Mentalitätsderivaten – den Nutzen und die Notwendigkeit anderer Geschichtsmodelle als des eigenen, (post-)imperialen, einzusehen.

Aber gerade daran könnte die kulturelle Ignoranz oder Arroganz ja auch ein wenig genesen. Denn sich damit zu beschäftigen, heißt, die meist unbewussten, aber immer übermächtigen Mechanismen ein wenig zu begreifen, mit denen verschiedene Kulturen in Europa – und verschiedene Geschichten – hierarchisiert, gewertet und (nicht) wahrgenommen werden.

Eine genaue Auseinandersetzung mit einer Kulturgeschichte erschwert nämlich das Beibehalten der Projektionen und Vorurteile, die Überzeugung, man wisse es sowieso alles viel besser, ganz enorm. Sie unterminiert erheblich die Neigung, „Provinzialitäten“, „Ränder“ und „Peripherien“ auch noch geografisch festlegen und in dieser so geschaffenen Ordnung den Überblick haben zu wollen. Stattdessen ist man gezwungen, die entsprechende Gemeinschaft ernst zu nehmen, ohne einfach in das falsche Pathos von der natürlichen Ebenbürtigkeit aller Kulturen zu verfallen.

Wenn wir Europa wirklich ernst nehmen würden, würden wir es kaum anders denken als ein kulturelles Kontinuum, nicht im Sinne von friedfertiger Widerspruchslosigkeit, sondern als ein Gebilde, das man ohne die größeren Kontexte nicht adäquat verstehen kann – nicht die herrliche Größe der großen Kulturen, aber auch nicht die vermeintliche Misere der unauratischen. Wir müssen uns die entscheidende Frage stellen, ob wir in das große Konzert europäischer Kultur nur Exzellentes aufnehmen wollen, nur Höhenflüge. Damit verliert man aber Zusammenhang und Zusammenhalt. Ohne diese Zusammenhänge wird es immer Lücken geben, umso größere, als sie nicht einmal bemerkt werden dürften. Warum ist man bereit, diese Lücken entstehen zu lassen, warum duldet man sie? Die unauratischen Kulturgeschichten verraten unter anderem auch das Verdrängte, das Verschmähte und Peinliche europäischer Kultur, vom Verbrecherischen ganz zu schweigen.

Denn Kultur ist nicht nur dazu da, Großartiges, Glanz und Gloria zu zelebrieren, sondern auch die tiefsten Täler unserer Existenz zu reflektieren. In den unauratischen Kulturen werden sie weniger mit Dekor verdeckt. Für Tragödien ist immer Material da, für Dekor nur gelegentlich.

Vielleicht täte es auch den „großen Kulturen“ gut, sich einmal im Spiegel der unauratischen zu betrachten, ihre Entwicklungen, Institutionen und Verwicklungen. Noch besser wäre es allerdings, diese beiden als ein wechselseitig bedingtes, wenn auch vielfach gebrochenes Kontinuum zu sehen.

 

Mit dem Kulturzug nach Pilsen

13. 10. 2015

Den Titel „Kulturhauptstadt Europas“ teilen sich in diesem Jahr das belgische Mons und das tschechische Pilsen. Die tschechisch-deutsche Gruppe machte sich auf den Weg in die westböhmische Stadt, die mit vielen Aktionen 2015 auf sich aufmerksam machte und zeigte, dass sie weitaus mehr zu bieten hat als Bier und Industrie. So fuhr zum Beispiel von Januar bis September am Wochenende der  „Zug zur Kultur“ von Regensburg nach Pilsen und zurück, Veranstalter dieser Aktion war das Zentrum Bavaria Bohemia (CeBB). Hier hatten Musiker, Literaten und Unterhaltungskünstler Raum und eine Stunde Zeit, den Reisenden die Fahrt kurzweilig zu gestalten und leisteten gleichzeitig einen Beitrag zum kulturellen Geschehen beider Länder – nicht zuletzt auch mit dem Fokus auf  kulturelle Vermittlung zwischen beiden Ländern. Angekündigt als Transstar-Gruppe, traten Martina Lisa, Martin Mutschler und Daniela Pusch am 26.09.2015 im Zug zur Kultur auf. Was dem gewöhnlichen Regionalzug sein Mehrzweckabteil, das war im Kulturzug die Bühne. Hier gab es genug Platz für Performer, Technik und Publikum, das sich auf die Klappsitze rundherum niederlassen oder einen Stehplatz nach Belieben wählen konnte. So lösten sich die Grenzen zwischen den Vortragenden und den Zuhörenden auf, man war sich nah, und wären da nicht das ständige Gerappel und Gerüttel und die üblichen Durchsagen für die Fahrgäste gewesen, hätte man auch von Wohnzimmeratmosphäre sprechen können. Die Transstar-Gruppe hatte vor allem Lyrik auf dem Programm, die von Marie Jiránková ästhetisch ansprechend gestaltete Lyrikfahrkarte bot den Reisenden einen Vorgeschmack:

   ich stell mir vor

   red mir ein

   hier

könnte

ich

auch

   leben

Wörter, die so schnell an einem vorbei ziehen wie die Landschaft hinter dem Fenster bei einer Zugfahrt: Rekvizity – ein Gedicht von Jan Těsnohlídek, das uns da abholte, wo wir waren, im Zug. Das Zugfahren also als Rahmen, dazu noch ein paar prosaische einleitende bzw. abschließende Worte von Karel Aksamit (Vlakové cesty – Zugfahrten) und Jiří Hajíček (Auszug aus dem Roman Rybí krev – Fischblut). Dazwischen Nostalgisches von Jan Těsnohlídek (To nejvíc nejhezčí z podzimu – Das mit Abstand Schönste vom Herbst), Melancholisches von Jiří Daníček (Dvě lod’ky – Zwei Schiffchen), raue Töne von Petr Hruška (Chlapče – Junge!), Meditativ-Poetisches mit einem Augenwinkern von Jaromír Typlt (Víčka – Die Deckel) oder Verspieltes von Ondřej Buddeus (rtf.-Gedichte). Übersetzt und vorgetragen von Martina Lisa, Martin Mutschler und Daniela Pusch – mal als Dialog, mal versetzt als Echo, mal mit tschechischen Originaltönen, mal aus dem vorderen Bereich und mal aus der hinteren Ecke kommend. So vielseitig die Texte waren, so abwechslungsreich wirkten sie auf das Publikum, das die Stimmungen schnell auffing und merklich mitging. Lyrik mal anders, Zugfahren mal anders.

Am Abend desselben Tages fand eine zweite Lesung  des Trios in Pilsen als Veranstaltung der Reihe „Meeting Literature“ in der Deutschen Bibliothek statt. Diesmal war es ein reiner Lyrikabend, wobei die Gedichte mit wechselnden Sprechern zweisprachig vortegtragen wurden. Das Repertoire wurde dramaturgisch nur leicht geändert, mit großer Wirkung. Anders waren allerdings Rahmen, Bühnensituation und Publikum. Deutlicher hätte man es wohl nicht erleben können, was so viele „alte Hasen“ behaupten: Jede Lesung ist einmalig!

Fotos

von Daniela Pusch

Übersetzen – Einige Gedanken von Lukas Laski

11. 6. 2015

Ich wurde mit nur einem Ohr geboren, das Polnisch verstehen lernte. Je mehr es davon aufnahm, desto hellhöriger wurde es und besser geeicht auf diese Art des Hörens. Aber bevor es sich diese Sprache zur Gänze einverleiben und reifen konnte, überschritt ich eine unsichtbare, nur hörbare Grenze und mir begann ein weiteres Ohr zu wachsen, das Deutsch verstehen lernte und sich voll entwickeln durfte. Damals fing auch meine Zunge an sich zu spalten. Die eine Seite ist flink und spitz. Sie ist sehr geschickt und verspielt, dank ihr spreche ich deutsch. Die andere Seite ist unsicher und ungeschickt, doch ihr Geschmacks- und Tastsinn ist feiner. Ihre Fähigkeit zu unterscheiden und zu genießen ist ausgeprägter, dank ihr spreche ich polnisch. Häufig spielen sie miteinander oder erzählen sich allerlei Geschichten und Witze, halten zusammen und helfen sich gegenseitig, aber sie streiten auch oft und kämpfen gegeneinander. Als sich meine Zunge spaltete, verdoppelte sich meine Welt. Doppeltes Sein, doppelte Pein, bringt mir aber auch sehr viel ein. Meine Nächte sind doppelt so lang, dafür scheinen mir tagsüber zwei Sonnen. Die zwei Höllen werden durch zwei Himmel ausgeglichen. Nur weil man doppelt sieht, schielt man noch nicht. Es hat also nicht nur Nachteile, zwischen den Stühlen zu sitzen. Mit ein wenig Übung kann es sogar sehr bequem werden. Gut zusammengestellt und ein bisschen gepolstert lassen sie sich zu einer Art Sofa umfunktionieren, auf dem auch ein entspanntes Nickerchen möglich ist. Oder man benutzt sie als Schild und Waffe, poltert und schlägt zur Verteidigung mit ihnen um sich, bläst aber auch wenn nötig zum Angriff.

Da sitze ich also, mit meiner gespaltenen Zunge und meinen ungleichen Ohren auf meinen beiden Stühlen. Ist es verwunderlich, dass ich als Übersetzer arbeiten möchte? Was sollte ich den anderes machen? Weder liegt mir daran Wolkenkratzer oder Luftschlösser zu bauen, dafür gibt es genug Freiwillige, noch am Verkauf von Automobilen und Mobiltelefonen, da ich bezweifle, dass die Welt noch mehr davon braucht. Ich habe es einmal mit dem Programmieren versucht, erfolglos, obwohl es sich dabei letztlich um nichts anderes handelt als Übersetzungsarbeit. Mittels exakt formalisierter höherer Programmiersprachen wird per Quellcode einer Prozessoreinheit ein Befehl kommuniziert, der von einem Compiler in die binäre und prozessorabhängige Maschinensprache übersetzt wird. Mit einem Decompiler lässt sich die Sprache der Maschinen in eine dem Menschen verständliche rücküberführen. Aber die Themen, über die man so mit den heutigen Computern sprechen kann, sprechen mich nicht an. Darum wandte ich mich von den Maschinensprachen ab, obwohl ihre kalte Präzision faszinierend ist, und zu den Menschensprachen hin, die nicht nur mit dem Kopf und den Händen gesprochen werden.

Dann hatte ich Glück, denn ich erfuhr von einem Projekt namens TransStar, in dem nicht nur das Übersetzen, sondern zugleich der Übersetzer im Mittelpunkt steht. Meine halben Zungen und ungleichen Ohren sprachen sich ab und wir bewarben uns. Dann hatte ich noch mehr Glück, denn ich schaffte es und wurde in den Kreis derer aufgenommen, die als Teilnehmer zwischen einigen Ländern Europas hin- und herfahren konnten, um an Vorträgen, Workshops, Lesungen und Diskussionen teilzuhaben. Darum packte ich meine zwei Stühle ein und brach auf, denn zu übersetzen heißt auch immer überzusetzen. Mit Gleichgesinnten tauschte ich mich aus sowohl während der Veranstaltungen als auch bei den gemeinsamen Mahlzeiten und dem einen oder anderen Bier. Kennst du dieses Buch? Was heißt jenes in deiner Sprache? Wie würdest du das übertragen? Hast du diese oder jene Konnotation des Wortes bedacht? Fast jedes Wort legten wir auf die Goldwaage, überprüften in unseren Werkstätten jeden kleinen Bestandteil des Ganzen wie Uhrmacher, die Schritt um Schritt ihr Werk zum Ticken bringen wollen.

Also setzten wir über, Mal in jene Stadt, Mal in jenes Land, nur an einem Ort war ich bereits vorher schon gewesen, aber das machte nichts, denn ich mochte ihn von der ersten Begegnung an. Alle weiteren Orte waren mir davor bestenfalls dem Namen nach bekannt und wären es ohne dieses Projekt auch sicherlich noch lange geblieben. Aber innerhalb von drei Jahren konnte ich alle paar Monate in eine Stadt reisen, die mir entweder schon gefiel oder während des Aufenthaltes zu gefallen begann. Diese Reisen schlugen immer wieder Breschen in die Betonmauern des grauen Alltags, den die einzüngigen und symetrischen Einstühler mir vorsetzten. Doch nun neigt sich TransStar seinem Ende zu und ich muss sagen, dass selbst wenn es mir nicht gelingen sollte weiterhin zu übersetzen, selbst wenn ich jene Orte nie wieder besuchen könnte, bleibt meine Teilnahme ein Glück. Denn sie hinterließ bleibende Spuren: Meine ungleichen Ohren haben sich ein wenig angeglichen, die Stühle haben einen neuen komfortablen Bezug erhalten und meiner Zunge fällt es einfacher in eine Richtung zu zeigen. Meinen herzlichsten Dank!

von Lukas Laski und Łukasz Łaski

Ein Film über die Übersetzungswürfel-Veranstaltungen in Ljubljana

25. 4. 2015

Projekte TransStar Europa und Übersetzungswürfel in Ljubljana (15.-18. April 2015)

Ein Film (hier) über die Übersetzungswürfel-Veranstaltungen in Ljubljana, 15.-18. April 2015.

Nette Begegnungen, spannende Diskussionen, interessante Lesungen und musikalische Intermezzos. Danke an alle, die dabei waren! Es war sehr schön.

Das EU-Projekt “TransStar Europa” vom 12. bis 15. März 2015 auf der Leipziger Buchmesse

9. 3. 2015

In vier Veranstaltungen und mit mehreren Publikationen präsentiert sich das EU-Projekt “TransStar Europa” vom 12. bis 15. März 2015 auf der Leipziger Buchmesse.

In der Veranstaltung Von fremden Höfen und knarzenden Brettern lesen am 12. März, 17.00 bis 18.00 Uhr im Forum OstSüdOst, Halle 4, Stand E 505 Daniela Pusch und Magdalena Becher unter der Moderation von Martina Lisa urbane Poesie und Prosa der tschechischen Autorinnen und Autoren Alena Zemančíková, Jan Balabán, Ondřej Buddeus, Radek Fridrich und Jan Němec. Am Abend des 12. März heißt es 20.00 Uhr im Theater fact Europäische Geschichte erzählen. Und übersetzen. Autorinnen und Autoren aus den südslawischen Ländern sowie aus der Ukraine präsentieren Geschichten aus Vergangenheit und Gegenwart.

Im Forum OstSüdOst, Halle 4, Stand E 505 präsentiert am Samstag, dem 14. März, 10.30 bis 11.30 Uhr Kateryna Babkina die im Rahmen des TransStar-Projektes entstandene Videopoesie zu Orten des Übersetzens und kommt unter der Moderation von Schamma Schahadat mit ihrer Übersetzerin Sofia Onufriv ins Gespräch über die Wechselwirkung von Orten, Bildern und Texten.

Am 14. März, 21.00 Uhr, stellt Martina Lisa zusammen mit Lena Dorn in der Schaubühne Lindenfels in der Veranstaltung display.eu – zeitgenössische Poesie aus Tschechien, Deutschland und der Slowakei unter anderem den tschechischen Lyriker Ondřej Buddeus vor.

Als Sonderbeilage zur Leipziger Buchmesse erscheint am 10. März Beton International in der taz. Beton versammelt südslawische Autorinnen und Autoren und präsentiert die Ausgabe in einer Veranstaltung am 12. März, 20.00 Uhr in der nato, Karl-Liebknecht-Straße 37. Zu den Übersetzerinnen und Übersetzern der Ausgabe gehören Evelyn Sturl, Paul Gruber, Maja Konstantinovic, Vivian Kellenberger und Anna Hodel.

Schreiben und Übersetzen aus der Perspektive der Mehrsprachigkeit: Das Gespräch zwischen Prof. Dr. Schamma Schahdat und Dr. Ilma Rakusa

30. 1. 2015

Wir möchten Sie herzlich einladen zu einer Veranstaltung mit unserer Tübinger Kooperationspartnerin Prof. Dr. Schamma Schahadat (Universität Tübingen, Netzwerk Kulturwissenschaft) an der Universität Konstanz:

Das Gespräch zwischen Prof. Dr. Schamma Schahdat und Dr. Ilma Rakusa (Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin, Literaturübersetzerin aus Zürich) über

Schreiben und Übersetzen aus der Perspektive der Mehrsprachigkeit

findet am 3. Februar 2015 von 17.00 bis 18.30 Uhr in Raum A703

im Rahmen der Ringvorlesung „Mehrsprachigkeit“ des gleichnamigen Zentrums an der Universität Konstanz statt. Es ist eine Kooperation mit dem Exzellenzcluster “Kulturelle Grundlagen von Integration” und mit dem EU-Projekt “TransStar Europa” (http://transstar-europa.org/ )

Schamma Schahadat ist Professorin für slavische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen und am Netzwerk Kulturwissenschaft beteiligt, in dem Wissenschaftler/innen der Universität Tübingen mit Mitgliedern des Exzellenzclusters zusammenarbeiten.

Ilma Rakusa ist Schriftstellerin, Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin. Geboren ist sie in der Slowakei, ihr Vater war Slowene, ihre Mutter Ungarin, und  bevor sie mit ihren Eltern in die Schweiz kam, ist sie in Budapest, Ljubljana und Triest aufgewachsen. Studiert hat sie Slavistik und Romanistik, unter anderem in Paris und Petersburg. Sie schreibt auf Deutsch und hat aus dem Russischen, Französischen, Ungarischen und Serbokroatischen übersetzt.

Mehr Mehrsprachigkeit in einer Biographie und im Leben und Schreiben kann es kaum geben. Um diese Erkundung immer neuer Sprachen wird es in dem Gespräch zwischen Schamma Schahadat und Ilma Rakusa gehen, um die Beziehung zwischen Mehrsprachigkeit, Schreiben und Übersetzen. Ilma Rakusa wird kurze Passagen aus ihren eigenen und übersetzten Texten lesen.

Einladung.

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Der Autor und ausgezeichnete Übersetzer Fabjan Hafner in Ljubljana

29. 12. 2014

Am 4. Dezember 2014 versammelte sich die deutsch-slowenische Gruppe im Haus des Verbandes der slowenischen Literaturübersetzer (Društvo slovenskih književnih prevajalcev). Der Gast des Abends war einer der wichtigsten Literaturübersetzer aus dem Slowenischen ins Deutsche Fabjan Hafner. Das Gespräch wurde von unserer Werkstattleiterin Amalija Maček moderiert. Fabjan Hafner, der am Vortag „Lavrinova diploma“ (renommierte Auszeichnung für hervorragende Leistungen beim Vermitteln der slowenischen Literatur in andere Sprachen) erhielt, erzählte unter anderem, dass er sich seit seinem 14. Lebensjahr mit literarischem Übersetzen beschäftigt, wobei seine Anfänge sehr interessant und ziemlich ungewöhnlich waren. Mit Amalija Maček unterhierlt er sich auch noch über die soziolinguistische Lage der slowenischen Minderheit in Kärnten, und las im Laufe des Abends zwei von ihm aus dem Slowenischen ins Deutsche übertragene Gedichte vor. Hafner schreibt auch selbst, deswegen ist ihm wichtig, dass er dem Autor treu bleibt.

 Text und Fotos von Ana Dejanović und Alenka Lavrin

Hier finden Sie einige Fotos.

Das Festival Borštnikovo srečanje in Maribor

29. 12. 2014

2015 wird es seinen fünfzigsten Geburtstag feiern, das älteste und bedeutendste Theaterfestival Sloweniens. In erster Linie ist es als großes nationales Festival bekannt, das die besten Produktionen der vergangenen Spielzeit im Wettbewerbsprogramm zeigt und dessen Preisverleihung live im staatlichen Fernsehen übertragen wird. Dabei hat es in den vergangenen Jahren unter der künstlerischen Leitung von Alja Predan auch eine stärkere internationale Ausrichtung erfahren. Seit 2010 werden im Showcase-Programm komprimiert an vier Tagen die für den internationalen Austausch interessantesten Produktionen gezeigt, was von Jahr zu Jahr mehr Festivalkuratoren und internationale Kritiker nach Maribor lockt. Über das Programm „Brücken“ kommen im Gegenzug Gastspiele aus anderen europäischen Ländern auf die Bühnen der Stadt. Außerdem steht seit 2011 jedes Jahr ein anderes Land mit szenischen Lesungen, Podiumsdiskussionen, einem Gastspiel und einer Publikation von zeitgenössischen Stücken in slowenischer Übersetzung im „Fokus“ des Festivals. Nach der Slowakei, Tschechien und den Niederlanden war es 2014 Spanien.

Mindestens genauso interessant wie die zahlreichen Inszenierungen ist das umfangreiche Begleitprogramm an Publikumsgesprächen, Podiumsdiskussionen, Fortbildungen für den künstlerischen Nachwuchs – wie zum Beispiel dem Schreibworkshop “Instant drama” – und Symposien zu wechselnden Themen. 2014 war eine mehrtägige Reihe dem „Theater des Widerstandes“ gewidmet, unter anderem mit Beiträgen von Vertretern des während des Zweiten Weltkrieges aktiven slowenischen Partisanentheaters. Auch wenn die freien Gruppen heute ihre Kostüme nicht aus Fallschirmstoff schneidern müssen, sind viele der damaligen Fragen und Probleme nach wie vor hoch aktuell.

Weitere Informationen: http://www.borstnikovo.si und ttp://partizanskogledalisce.si/

von Lydia Nagel

Bohumil Hrabal: Ein Perlchen am Grund (Ein Leseabend mit Daniela Pusch und Mirko Kraetsch)

21. 11. 2014

Am 21. 10. 2014 lud das Berliner Literaturhaus zu einem Abend mit tschechischer Literatur ein. Daniela Pusch, Übersetzerin und TransStar-Teilnehmerin, hat ihre nur wenige Wochen alte Übersetzung von Bohumil Hrabals Erzählung „Ein Perlchen am Grund“ vorgestellt, mit der sie den deutschen Teil des internationalen Übersetzerwettbewerbs der Tschechischen Zentren gewann. Der Wettbewerb wurde anlässlich Hrabals 100. Geburtstages ausgeschrieben.

Die meisten Gäste nutzten die paar freien Minuten vor der Veranstaltung zum Besuch einer Ausstellung zu Bohumil Hrabal und seinem Leben und Werk, die den Leseabend um viele Fakten und Fotos ergänzt hat. Die Ausstellung „Wer bin ich. Bohumil Hrabal: Schriftsteller – Tscheche – Mitteleuropäer“ kann im Literaturhaus Berlin noch bis zum 23. 11. besucht werden. Neben Daniela Pusch saßen Mirko Kraetsch, der aus dem Tschechischen und Slowakischen übersetzt und bei dem Wettbewerb Jurymitglied war, und Christina Frankenberg vom Tschechischen Zentrum, die die Moderation übernahm.

Danielas Übersetzung und vor allem ihre fast schon schauspielerische Darbietung der Geschichte zeigten bei den Zuhörern große Wirkung und unterstrichen die humorvolle Art und Leichtigkeit, mit der Hrabal seine Figuren in unendliche Gespräche verwickelt, die durch das Anreihen von kleinen Geschichten und Episoden entstehen. Und während im großen Kessel inmitten eines alten Holzschuppens das Mausolin blubberte, lernten die Zuhörer den alten Drogistendiener und seinen Handlanger kennen, wie auch ihre halbe Verwandtschaft, die nächsten Nachbarn, Einzelheiten aus ihrer Vergangenheit und das Neuste über ihren Gesundheitszustand. Und Anita natürlich, die riesige Bordeaux-Dogge.

Die zweite Hälfte des Leseabends war einem Gespräch über Danielas Übersetzung, den Wettbewerb und das Übersetzen an sich gewidmet. Mirko Kraetsch erzählte über die Hintergrunde der Juryentscheidung, so dass die Zuhörer nachvollziehen konnten, wie die Jurymitglieder bei ihrer Wahl vorgegangen sind und welche Schwierigkeiten sich darin verbergen, wenn man mehrere Versionen eines und desgleichen Textes vergleichen und daraus den besten auswählen soll. Beide Übersetzer haben auch sehr unterhaltsam von den Problemen, an die sie immer wieder bei der Arbeit stoßen, und ihren Lösungen oder wenigstens Lösungsversuchen berichtet. Das überaus interessante Gespräch über das Übersetzen und über Bohumil Hrabal wurde später im Literaturhaus-Café bei einem Glas Wein noch einige Stunden fortgesetzt.

 von Katka Ringesová

Deutschlandradio (5. Oktober 2014): Russische Literatur im Kalten Krieg

5. 10. 2014

Sonntag, 5. Oktober 2014, Deutschlandradio Kultur (zum Beitrag)

Getrennt vereint: Das deutsch-deutsche Gespräch über russische Literatur vor dem Mauerfall.

Von Eveline Passet

Die Rezeption der russischen Literatur im deutschsprachigen Raum war von Anfang an mehr durch politische als durch ästhetische Erwägungen geprägt. Mit der Teilung Europas verschärfte sich dies noch einmal. Völlig unbekannt blieb, wie die Russisch-Übersetzer den “Eisernen Vorhang” durchlöcherten. /…/

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