Gelesenes: Olga Tokarczuk im Literaturhaus Stuttgart

11. 10. 2014

Die polnische Autorin Olga Tokarczuk, geboren 1962, wurde vielfach ausgezeichnet und erhielt 2008 den wichtigsten polnischen Literaturpreis, den Nike-Preis. Bei der Lesung stellte sie ihren Roman “Der Gesang der Fledermäuse” vor, mit dem sie sich ins Genre des Krimis begibt. Die Geschichte um eine ehemalige Brückenbauingenieurin, die sich jetzt als Englischlehrerin in die niederschlesichen Berge zurückgezogen hat, wo es wiederholt zu Mordfällen kommt, ist auch ein Tierschützerroman und eine Kritik an die heutige Fixierung auf den Körper und die Bestrebungen nach Verjüngung und Verlängerung des Lebens. Die Erzählerin ist besessen von Tierschutz und beschäftigt sich leidenschaftlich mit Astrologie. Außerdem liest und übersetzt sie mit einem ehemaligen Schüler die Gedichte des englischen Dichters und Naturmystikers William Blake. Im Roman gibt es viele Anspielungen auf Blake, auch der Titel des polnischen Originals ist ein Zitat und lautet auf Deutsch: “Lenke deinen Pflug über die Gebeine der Toten”.

Die Autorin sprach über Marketingstrategien, die zur abweichenden Übersetzung des Titels führten, sowie über ihre Erfahrungen bei der Zusammenarbeit zwischen dem Autor und dem Übersetzer. Dabei unterscheidet die Autorin den introvertierten Übersetzer, der keine Fragen an den Autor stellt, vom extrovertierten Übersetzer, der bei Unklarheiten den Kontakt mit dem Autor aufnimmt, und stellt fest, dass sie den direkten Kontakt zwischen dem Autor und Übersetzer für wichtig erachtet. Die Lesung am 25. September 2014 im Literaturhaus Stuttgart wurde moderiert von Alida Bremer, gelesen hat die Schauspielerin Doris Wolters, gedolmetscht hat Stefan Heck (Fotos des Abends).

von Karmen Schödel

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Gekreuztes: Judith Hermann liest: Aller Liebe Anfang

8. 10. 2014

Lesung mit Judith Hermann war die erste Lesung im Rahmen unserer Werkstatt. Moderiert wurde sie von Uwe Kossack, als Spezialgast wurde am Anfang der Veranstaltung Übersetzer und Werkstattleiter Jurko Prochasko angekündigt.

Der erste Teil der Veranstaltung war eine klassische Lesung. Judith Hermann erzählte über ihren ersten Roman, der eigentlich als eine Erzählung geplant war. Die Protagonistin Stella ist gewissermassen erwachsen gewordene Heldin aus den Erzählbänden Nichts als Gespenster und Sommerhaus später. Auf die Frage des Moderators, in welcher Stadt denn die Handlung des Romans spielt, antwortete die Autorin, dass der Leser sich das aussuchen kann. Es kann fast überall sein. Die Autorin hat drei Textausschnitte vorgelesen, die einen guten Einblick in die Struktur und Handlung des Romans gegeben haben.

Im zweiten Teil sollte ein Gespräch zwischen Judith Hermann und Jurko Prochasko stattfinden, der das Erzählband Sommerhaus, später aus dem Deutschen ins Ukrainische übersetzte. Doch die Erwartungen des Publikums wurden nicht erfüllt. Der Moderator hat an den Übersetzter zwei Fragen zur aktuellen politischen Situation in der Ukraine gerichtet und danach kurzerhand die Lesung für beendet erklärt. Das war sehr schade, weil wir, Übersetzer sehr an einem Gespräch zwischen der Autorin und ihrem Übersetzer interessiert waren. Das kam definitiv zu kurz.

 von Sofia Onufriv

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Gesucht und gefunden: Salonlesung von Teilnehmern des Projektes TransStar Europa mit Petra Bewer und Peter Conradi

4. 10. 2014

Das war die Zeit für das Sprechen und das Zuhören,
für das gemeinsame Schaffen und Fühlen.

Schritt. Schritt. Schritt. Die Tür geht auf. Die Dunkelheit verschwindet. Das Licht erscheint. Das ganze Zimmer, der ganze Raum ist mit Licht erfüllt. Es strömt aus allen Fenstern und dringt bis  in die kleinste Ecke durch. Hier gibt es eine Menge von Büchern. Diese Wohnung scheint nur aus Büchern zu bestehen. Überall sind in gemütlichen Ecken Sessel zu finden, die zum Verweilen einladen, zum Lesen anregen und zum Nachdenken bewegen. Mit der Zeit füllt sich der Raum mit Menschen. Sie warten darauf, dass die Worte aus den Büchern herauskommen. Die Worte  verlassen die Münder der Menschen und der Raum wird mit den Wörtern gefüllt. Hier ist Slowenisch, Ukrainisch und Deutsch zu hören. Manchmal reimen sich die Worte, manchmal schichten sie sich aufeinander und manchmal bleiben sie ungebunden. Die vorgetragenen Worte verschwinden hinter den offenen Fenstern oder finden ihren Platz in den Köpfen und Herzen der Menschen, um dort für immer zu bleiben.

 von Olga-Daryna Drachuk

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Die Kunst der Übersetzung: Ein Abend mit Frank Günther

2. 10. 2014

Frank Günther, Shakespeare-Übersetzer und -Kenner, gastierte am 26. September im Rahmen des Projekts Übersetzungswürfel im Literaturhaus Stuttgart. In seiner Shakespeare-Übersetzungsperformance illustrierte er auf eine amüsante Weise, wie die ersten Versuche, Shakespeare ins Deutsche zu übersetzen, klangen und wie sehr gewisse Stellen in Shakespeares Dramen durch die Geschichte verändert wurden. Er konzentrierte sich vor allem auf die Stellen, die mit Sexualität zu tun haben und verglich die Lösungen, die verschiedene deutsche Übersetzer bzw. Übersetzerinnen benutzt haben. Zum Vergleich wurden auch einige französische Übersetzungen miteinbezogen. Die meiste Aufmerksamkeit widmete er Schlegels Übersetzungen, die noch heute kanonisiert sind, obwohl sie sich oft sehr vom Original entfernen. Er verglich ältere Übersetzungen auch mit seinen eigenen Versionen und sprach über die Schwierigkeiten und Fallen, mit denen sich ein Shakespeare-Übersetzer auseinander setzen muss. Mit einem konkreten Beispiel illustrierte er auch, wie er mit solchen schwierigen Stellen fertig wird, bzw. wie sein Übersetzungsprozess aussieht. Die Übersetzungsperformance begeisterte das zahlreiche Publikum und nachdem Frank Günther die Bühne schon verlassen hatte, wurde er durch dröhnenden Applaus zurückgerufen.

 von Janko Trupej

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ALLER LIEBE ANFANG: Die Kunst des literarischen Übersetzens

12. 7. 2014

Übersetzungswürfel in Stuttgart

 Programm (als PDF-Datei)

 24.-28. September 2014

ALLER LIEBE ANFANG: Die Kunst des literarischen Übersetzens
Der internationale Übersetzungswürfel im Literaturhaus Stuttgart

Sechs aufregende Seiten europäischer Literatur und Übersetzung – dafür steht der Übersetzungswürfel: Unter den Rubriken “Gelesenes”, “Gespieltes”, “Getauschtes”, “Gemogeltes”, “Gekreuztes”, “Gesucht und gefunden” erwarten das Publikum Veranstaltungen, die das Übersetzen künstlerisch, analytisch und interaktiv in Szene setzen. In Stuttgart, Krakau, Ljubljana, Tübingen, Prag und Berlin präsentieren Autoren, Übersetzer und Experten die Vielgestaltigkeit europäischer Literatur, ihre Räume und Verflechtungen.

Übersetzerinnen und Übersetzer im heutigen Europa zeichnen sich vor allem durch transkulturelle Biografien, unterschiedliche Lese- und Lebenserfahrungen und Bewegungen zwischen Kulturen und Traditionen aus.


24.09.14 20 Uhr

Gekreuztes: Judith Hermann: Aller Liebe Anfang

Special Guest: Jurko Prochasko, Übersetzer

Moderation: Uwe Kossack

Ort: Literaturhaus Stuttgart

Judith Hermann legt mit Aller Liebe Anfang erstmalig einen Roman vor. Stella und Jason sind verheiratet, sie haben eine Tochter, Ava, sie leben in einem Haus am Rand der Stadt. Eines Tages steht ein Mann vor der Tür, ein Fremder. Um sich mit Stella zu unterhalten, wie er sagt. Der Fremde kommt am nächsten Tag wieder, lässt ihr keine Ruhe mehr. Judith Hermann erzählt vom Einsturz eines sicher geglaubten Lebens und einer irrationalen Schutzlosigkeit. Sie gilt als die prägende deutschsprachige Erzählstimme des Berlins der 1990er Jahre. Insbesondere auch in den Ländern Mittel- und Osteuropas wird sie stark rezipiert und übersetzt. Im zweiten Teil des Abends vermisst Judith Hermann zusammen mit ihrem ukrainischen Übersetzer Jurko Prochasko, zugleich einer der führenden Intellektuellen des Landes, die europäische Dimension ihrer Texte.


Donnerstag 25.09. 20 Uhr

Gelesenes: Olga Tokarczuk

Der Gesang der Fledermäuse

Moderation: Alida Bremer

Ort: Literaturhaus Stuttgart

Die vielfach ausgezeichnete Olga Tokarczuk gehört zu den großen Namen der polnischen Literatur. Mit dem Roman Der Gesang der Fledermäuse wagt sie sich ins Genre des Thrillers. Die schrullige Erzählerin Janina Duszejko, Dorflehrerin für Englisch, hat zwei Leidenschaften: Astrologie und Tiere. Als in der Umgebung eine Leiche nach der anderen auftaucht, ist sie der Polizei immer einen Schritt voraus. Dabei weiß sie das unauffällige Erscheinungsbild einer alten Frau mit Plastiktüte in der Hand geschickt zu nutzen. Tokarczuk, 1962 geboren, erhielt 2008 den Nike-Preist, den wichtigsten polnischen Literaturpreis. Der Gesang der Fledermäuse ist unter der Regie von Agnieszka Holland als deutsch-polnische Koproduktion zur Verfilmung vorgesehen.

Die Autorin, Übersetzerin und Literaturvermittlerin Alida Bremer spricht mit Olga Tokarczuk über ihr Schreiben und Werk, die transnationale und europäische Verankerung ihrer Texte sowie die internationale Wahrnehmung durch literarische Übersetzungen.


Freitag 26.09. 20 Uhr

Gespieltes:  Die Kunst der Übersetzung

Ein Abend mit Frank Günther

Ort: Literaturhaus Stuttgart

Mit Wort, Foto, Installation und Film geht die Veranstaltung auf die Suche nach der Kunst des literarischen Übersetzens. Der Übersetzer und Shakespeare-Kenner Frank Günther gibt in einer Wort-Performance faszinierende Einblicke in die Welt von William Shakespeare, dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum 450. Mal jährt. Unkonventionell und lebendig lädt er zu einem originellen Spaziergang durch Shakespeares Werke ein. Günther, geboren 1947, übersetzt seit über vierzig Jahren Shakespeare. Im Anschluss daran zeigen wir die Kunst der Übersetzung in assoziativen Formaten:  in der Videopoesie über transkulturelle Orte der ukrainischen Lyrikerin Kateryna Babkina, in der Text- und Übersetzungsinstallation der Erzählung „Salzwasser“ von Ulrike Almut Sandig, vertont von der Autorin in Kooperation mit Sebastian Reuter, und in einer Fotoschau zu Orten des Übersetzens von Teilnehmern des EU-Projektes TransStar Europa.


Samstag 27.09. ab 20 Uhr

Gespieltes: Serhij Zhadan & “Sobaky v kosmosi” [dt. Hunde im Weltall]

Ort:  Literaturhaus Stuttgart

Die „kühnste Stimme der jungen ukrainischen Literaturszene“ (NZZ), Serhij Zhadan, und die Ska-Band Sobaky v kosmosi  verbinden Ska und Reggae politischer Emigranten aus Jamaika mit psychedelischen Chorelementen aus der ukrainischen Volksmusik. In ihrem Stuttgarter Konzert stellen die Musiker ihr neues Album Kämpf um sie vor. Serhij Zhadan, geboren 1974, ist der wichtigste und aufregendste Vertreter der jungen ukrainischen Gegenwartsliteratur. Er stammt aus der Ostukraine, die von Schwerindustrie- und Bergbaumetropolen gekennzeichnet ist und deren Bevölkerung vom Industrialisierungsmythos der Sowjetjahre geprägt wurde. In seinen Prosawerken Depeche Mode, Anarchy in the UKR und Hymne der demokratischen Jugend ist er dem Raum und seinen Menschen auf der Spur. Er begleitet Nutten, Bergarbeiter, Studenten, Penner und viele andere auf ihrer Suche nach einer neuen Identität in den Wirren der neuen Zeit.

Sonntag 28.09. 11 Uhr

Gesucht und gefunden: Augenfälliges aus der slowenischen und ukrainischen Gegenwartsliteratur

Ort: Dielenlesung bei Petra Bewer und Peter Conradi

Moderation: Schamma Schahadat, Tina Štrancar

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des EU-Projekts TransStar Europa präsentieren Auszüge aus ihren literarischen Übersetzungen großer Autorinnen und Autoren ihrer Länder in der entspannten Atmosphäre einer privaten Stuttgarter Wohnung.  Sie lesen Texte von zeitgenössischen Autorinnen und Autoren, die im heutigen Europa ihre Geschichte erzählen. Eine Geschichte von Identität und Heimatlosigkeit, Entwurzelung, Fremde, Neubeginn, von Grenzen, ihren Verschiebungen und Überschreitungen.

Mitgestaltet wird der Übersetzungswürfel von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des EU-Projektes TransStar Europa, die aus acht europäischen Ländern stammen und im Verlauf von drei Jahren im literarischen Übersetzen und Kulturmanagement geschult werden und internationale Erfahrungen sammeln.

Projektträger: Slavisches Seminar der Eberhard Karls Universität Tübingen. Kooperationspartner: Literaturhaus Stuttgart, Villa Decius Krakau, Universität Ljubljana, Karls-Universität Prag, Literaturwerkstatt Berlin sowie die Partner des EU-Projekts TransStar Europa.

Ausführliche Informationen zu den sechs Stationen des Übersetzungswürfels und zum EU-Projekt TransStar Europa finden Sie unter:

http://transstar-europa.org/projekt/ubersetzungswurfel/

oder

http://www.slavistik.uni-tuebingen.de/transstar.html

Das Projekt wird gefördert von der Kulturstiftung des Bundes, dem Programm für lebenslanges Lernen der Europäischen Union und der Robert Bosch Stiftung.

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Reportage aus Krakau 2014

2. 5. 2014

Eine schöne Erinnerung an das Netztwerktreffen des Projektes TransStar Europa und an die Veranstaltungen im Rahmen des Projektes Übersetzungswürfel. Hier geht es zum Film.

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Gelesenes: Neue deutsche Prosa, frisch übersetzt

8. 2. 2014

Serdecznie uwaga!

Vier junge ÜbersetzerInnen lasen am Samstag ihre frisch aus dem Deutschen ins Polnische übertragenen Texte. Welcher Ort hätte dafür besser geeignet sein können, als das Café Czułky Barbarzyńca. Das Publikum lauschte umgeben von Büchern Lukas Laski, Zofia Zucharska, Karolina Matuszewska und Magdalena Stefańska. Sława Lisiecka, die Werkstattleiterin der deutsch-polnischen TransStar-Gruppe, führte durch die Veranstaltung.

Den Anfang machte Lukas Laski mit seiner Übersetzung des Textes „Die Geschichte meiner Einschätzungen am Anfang des dritten Jahrtausends“ von Peter Licht. Die Wahl dieses Textes erwies sich als goldrichtig – Lukas gekonnter Vortrag brachte das Publikum immer wieder zum Lachen.

Eine ganz andere Stimmung erzeugte Zofia Zucharska mit ihrem Text „Der erste Schnitt“ von Svenja Leiber. Nicht komisch, sondern tragisch war die Geschichte einer jugendlichen Polizistentochter in der niedersächsischen Provinz. Nicht nur mit dem Original, sondern auch mit ihrer Übersetzung, fing sie das Publikum ein.

Die zu Unrecht als unscheinbar angekündigte Karolina Matuszewska präsentierte Zsuzsanna Gahses  Text „Nichts ist wie“ und ihre Übersetzung. Das Nebeneinanderstellen des Originals und der Übersetzung in einem Café veranschaulichte die transkulturelle Komplexität des Textes wunderbar. Denn hier ging es um die Ungarin Rosa, deren Ankommen im Ausland sich über das Erlernen von Sprachfloskeln und das Besuchen von Kaffeehäusern vollzieht.

Abschließend las Magdalena Stefańska aus „Aller Tage Abend“ von Jenny Erpenbeck. Dieser Text gab Anstoß zu einer Diskussion über die Übersetzbarkeit deutscher Tempuswechsel, die den Ausgangstext ausmachen.

Insgesamt ein gelungener Nachmittag, der den jungen ÜbersetzerInnen eine stimmungsvolle und bücherreiche Bühne für ihre ersten Werke bot.

Hier finden Sie einige Fotos. Besuchen Sie auch unsere FB-Seite.

von Constanze Aka und Nina Hawrylow

 

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Gekreuztes: Lesung und Gespräch

8. 2. 2014

Sylwia Chutnik „Dzidzia“ mit dem Übersetzerinnentandem Magda Wlostowska und Zofia Sucharska

Moderation: Olaf Kühl (Berlin)

„Titelheldin ist ein Kind, das mit Wasserkopf und ohne Glieder geboren wurde. Vor einem halben Jahrhundert hat Dzidzias Großmutter bei den Deutschen zwei Polinnen denunziert, die Flüchtlinge aus dem durch den Aufstand vernichteten Warschau waren. Das „Rumpf-Kind“ wird zu einem Medium, das Kontakt zur Kriegswirklichkeit hat. Das Buch initiierte eine Unmenge von Fragen bezüglich der Nationalkomplexe, des polnischen Katholizismus und Antisemitismus und belebte die Diskussion über die patriarchale Ordnung.“

Soweit die Veranstaltungsbeschreibung aus dem Programmheft. Bestimmt ein schmerzhafter Roman. Weil das Kind…, weil der Krieg…

In der Person des „unvollendeten“ Kindes verbindet sich die Schuld mit der Unschuld. Die Verstümmelung der kleinen Dzidzia, des Babyleins (wie sie auf Deutsch heißt) wird als Bestrafung für Omas Kriegssünde und so als gerecht interpretiert. Das Mädchen ist da, in der Gegenwart, gleichzeitig aber fest gefangen in der Kriegszeit. Sie ist geistig behindert und sprachlos, artikuliert jedoch hie und da Kriegserlebnisse fremder Menschen. Sie wird geliebt und gleichzeitig gehasst, wird für eine Heilige sowie für ein Stück Fleisch gehalten. Ist sie oder eine andere Romanperson eine symbolische oder universale Figur? Auch das war eine der Fragen, die im Laufe des Abends gefallen sind. Nein, lautete die Antwort, zumindest war die Absicht nicht so. Aber der Name Dzidzias Mutter klingt Danuta Mutter…

Das Hauptthema des literarischen Abends war die nicht erschienene Übersetzung ins Deutsche. Die als konservativ bezeichneten Polen zeigten sich hier liberaler als die Deutschen. Wegen Mangel an Empathie, der rohen Beschreibungen des verstümmelten Körperchens, wurde eine Veröffentlichung des Buches in deutscher Sprache abgelehnt. Interessanterweise hat Sylwia Chutnik diesen Grund erst jetzt, bei dieser Lesung, von Olaf Kühl erfahren. Sie hätte bis jetzt gedacht, der Grund wäre die polnisch-deutsche Geschichte, die historische Schuld. Obwohl sie bei ihren Auftritten in Deutschland selber erfuhr, dass ihre Schilderung der gemeinsamen schmerzhaften Vergangenheit in Deutschland manchmal sogar sehr positiv angenommen wird.

Sylwia Chutnik stürzt Stereotype um. Nicht programmatisch, sie stellt sie nur in Frage. Oder noch besser. Sie versucht auch die andere als nur die befeierte, heldenhafte Seite der Vergangenheit zu zeigen. Was nach und nach ein neu aufgehender Trend zu sein scheine. Die nationalen Mythen würden in Europa in Frage gestellt und hinterfragt, sagte sie.

Das Buch thematisiere, so die Autorin selbst, zwei wichtige Erscheinungen: das Problem der Behinderten, die die Gesellschaft nicht gerne sieht. Und die Geschichte, bzw. einen Versuch, die Geschichte zurückzurufen. „Wenn ich die Augen zumache, kann mich keiner sehen“, denkt manchmal die Mutter Danuta Mutter, die mit ihrer Position zwischen der „Schuld“ und der „Unschuld“ nicht klar kommt.

Die Übersetzungsschwierigkeiten sind leider etwas zu kurz gekommen. Sowie Leseproben, die für einen unwissenden Zuschauer vielleicht hilfreicher wären, als das zwar interessante, aber für die meisten doch etwas aus dem Kontext gerissene Gespräch der Auftretenden. Der Lesungsschluss klang allerdings optimistisch aus. Herr Kühl meinte: die Übersetzerinnen sollen es nicht aufgeben, sondern weiter kämpfen, die Übersetzung sei gut und eines Tages werden sie bestimmt erfolgreich sein.

Hier finden Sie einige Fotos. Besuchen Sie auch unsere FB-Seite.

von Petra Grycová

 

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Gespieltes: Ulrike Almut Sandig und Marlen Pelny

8. 2. 2014

Über die Farbe Blau, den Transit von Venus in Neuseeland und das Warten: So atmosphärisch wie auch unvorhersehbar ist die Dichtung der Autorin Ulrike Almut Sandig. Und genauso kunterbunt klingt auch die musikalische Begleitung der Berliner Musikerin Marlen Pelny. Stellt man diese zwei außergewöhnlichen Frauen zusammen auf die Bühne inmitten der fast magischen Atmosphäre der Krakauer Kneipe Alchemia, erlebt man einen unvergesslichen Abend voll geheimnisvoller und sehr unterhaltsamer lyrischer Klänge.

Nach einem langen Tag in der Villa Decius war Alchemia eine willkommene Abwechslung. Die Kneipe befindet sich nämlich in Kazimierz, einem sehr scharmanten Stadtteil Krakaus, der ursprünglich überwiegend von Juden bewohnt wurde, wovon mehrere Synagogen und der älteste jüdische Friedhof in Krakau aus dem Jahre 1551 zeugen.  Das Ambiente im Keller dieser hippen Bar war somit mehr als perfekt für so einen poetisch-musikalischen Abend.

Der gemeinsame Auftritt der Künstlerinnen hieß genauso wie ihr gemeinsames Projekt “Dichtung für die Freunde der Popmusik”. Alle, die der Poesie normalerweise eher misstrauisch gegenüberstehen und der Meinung sind, dass sie nicht so viel mit ihr anfangen können, hatten jetzt möglicherweise einen Anlass, sie in einem anderen Licht zu betrachten. Durch die Verflechtung des gesprochenen Wortes mit Gitarre und Effekten hat es sich gezeigt, dass die Grenze zwischen Dichtung und Musik, dem Gesprochenen und Gesungenen, dem Wort und Klang sehr fließend und verschwommen sein kann. Almut Sandig und Pelny lockten uns an fremde Orte, in fremde Leben, Denkweisen und Geschichten und machten sie dabei so vertraut, dass man glaubte, die Zeilen und Töne seien die unseren. Almut Sandigs Gedichte sind zeitlos, sehr greifbar und zugleich weit, weit weg. Durch die musikalischen Einlagen von Marlen Pelny, die oft mit bekannten Melodien überraschte (es gibt wohl kaum jemanden, der bei „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht“ und „Blau, blau, blau sind alle meine Kleider“ nicht mitsingen könnte), schwebten die Worte im Raum und ließen der Fantasie freien Lauf.

Damit es aber nicht nur bei unserer Beschreibung bleibt, könnt ihr unten auch selber zwei Gedichte von Ulrike Almut Sandig lesen oder gar besser, euch die Gedichte vorlesen lassen. Schließt dabei die Augen, reist in Gedanken ins Kazimierz-Viertel und lasst euch fallen.

im märzwald

stehen wir. du und ich. bis hierhin
sind wir gekommen, die anderen
sind uns voraus. unter den kronen
dieser bäume sind sommer und winter zugleich. im gewicht der eigenen leiber ähneln wir uns. du und ich. um diesen baum, dessen namen keiner mehr weiß, dreht sich die erde

und du gibst mir dein wort: dazubleiben, wenn ich geh.

an diesem ort drückt nichts uns zu boden, ins horizontale, zu schnee.

kolor

,

schieß ein bild: meine kleider sind 
blau. vergiss mein nicht. diese blume ist 
blau. alles, was wir haben, ist uns auch von 
belang! alles ist blau, ja! blau. mein schatz ist 
ein matrose. wiesel sind blau, dieses wetter 
ist blau, dein display ist blau, die gedichte 
sind blau, meine pfeife ist immer meine 
pfeife, mein rauch ist blau, alle ringe 
sind blau, himmel ist blau. enzian, 
singst du, soll auch blau sein.

,,

die erde gibt aus der nähe gesehen kein bild ab, 
sie sieht nur von weitem blau aus. genauso wenig 
kleider, rauch, die liebe, blumenstiele. von hier aus 
gesehen ist nichts blau. genauso wenig ein screen. 
screen ain’t blue. screen is the melancholic GAP, zugehängt mit wetterkarten. screen is absence
of things. mein ring ist nicht blau, textil ist 
nicht blau, wetterkarten sind nicht blau. 
himmel soll auch nicht blau sein.

 von Zosia Sucharska, Anja Wutej, Željka Gorički

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Gespieltes: Dichtung für Freunde der Popmusik

8. 2. 2014

Wenn Wörter zum Klang werden: Ein Bericht über die Veranstaltung von Ulrike Almut Sandig und Marlen Pelny „Dichtung für Freunde der Pop-Musik“

Die unter dem etwas suspekten Titel „Dichtung für Freunde der Pop-Musik“ angekündigte Veranstaltung von Ulrike A. Sandig und Marlen Pelny fungiert nicht als eine übliche Autorenlesung. Die Literatur kommt hier zu Wort in Gestalt einer auf mehrere Sinne wirkenden Performance. Die an sich schon sehr beeindruckenden Gedichte von Sandig werden mit viel Feingefühl an Ort und Stelle präsent gemacht. Die Bilder des Meers, der Vögel, der Planeten, des von Le Corbusier geschaffenen Expo-Pavillons schweben im dunklen Kellerraum und das Publikum greift fasziniert danach. Aber das Visuelle überwiegt nicht gänzlich, sondern die einzelnen Wörter werden momentweise zum Geräusch oder zum Klang. Überraschend daran ist, dass diese scheinbar entfremdende Art der Darstellung die Poetik der Autorin nicht kühl macht, ganz im Gegenteil. Ulrike Sandig zieht das Publikum in ihr Universum hinein, in eine gewisse Ursprünglichkeit. Die Musik und der Gesang von Merlen Pelny unterstützen dieses Unternehmen, ganz gleich ob sie Pop-Songs, oder elektronische Musik anstimmt. Und die zuhörenden Übersetzer, sonst so gerne über ihre Bücher und Computer gebeugt, stehen der Tatsache gegenüber, dass sie gerade etwas ganz und gar Unübersetzbares live miterleben.

Einige Fotos finden Sie hier. Besuchen Sie auch unsere FB-Seite und schauen sie sich ein interessantes Video an. Und noch eins.

 von Michaela Otterová

 

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