Goran VOJNOVIĆ: Jugoslawien, mein Land, Romanauszug (Aus dem Slowenischen von Franziska MAZI)

28. 1. 2014

Einleitung

Der Roman setzt sich auf eine für den Leser bisweilen schmerzliche Art und Weise mit dem Thema Schuld auseinander. Die Hauptfigur, Vladan Borojević, erfährt als Erwachsener, dass sein totgeglaubter Vater, Nedeljko, ein General der Jugoslawischen Volksarmee, des Genozids angeklagt und deshalb gesucht wird. Für Vladan, der seit seiner Jugend in Ljubljana lebt, beginnt eine beschwerliche Reise zurück zu den Orten seiner Kindheit und seiner Traumata, die er bei Beginn des Krieges und nach dem Einzug seines Vaters in die Armee verlassen musste. Auf der Suche nach dem Vater sieht sich Vladan auch immer mehr mit dessen vermeintlichen Verbrechen konfrontiert. Dies geht so weit, dass aus der Suche nach dem Vater eine qualvolle Suche nach Aufrechterhaltung der persönlichen Integrität wird. Der übersetzte Auszug ist ein Schlüsselmoment, in welchem beschrieben wird, wie Vladan äußere und innere Grenzen überwindet. Äußerlich fährt er über die Grenze von Kroatien nach Serbien – eine Grenze, die es zu Zeiten seiner Kindheit noch nicht gab – und innerlich öffnet er dem Gedanken, dass sein Vater wirklich ein Kriegsverbrecher sein könnte, die Schranken.

Ein Interview mit dem Autor finden Sie hier.

 […]

»Du kommst von Novi Sad?«
»Ja.«
»Und wie ist es dort jetzt?«
»O.k.«
»Mann, war das damals eine schöne Stadt. Gehen die Leute dort immer noch an der Donau
spazieren?«
»Ich denke schon.«
»Einen Scheiß gehen sie spazieren. Wenn du wüsstest, was für eine schöne Stadt das war. Herrlich. Und was für Mädchen. Solche gibt’s da jetzt sicher nicht mehr. All das ist jetzt vorbei. Aber damals! Ich krieg noch heute einen Steifen, wenn ich die Donau im Fernsehen sehe. Was da damals alles spazieren ging, wenn du wüsstest, Vladan. Das gibt‘s nirgends mehr. Nicht einmal in Amerika.«
Er gab mir meinen Reisepass zurück, aber ich war nicht überzeugt, dass es angemessen gewesen wäre, ihn während dieses Sevdah-Moments, dieses melancholischen Augenblicks,  allein zu lassen. Dann schaffte er es aber doch, mir ein Handzeichen zu geben, dass ich weiterfahren und die Staatsgrenze wieder öffnen soll. Was ich auch gern getan hätte, wenn die Karre nicht genau dann entschieden hätte, ein wenig zu streiken, was auch den Zöllner aus seinen feuchten Träumen von Novi Sad zurück in die Rolle des Verteidigers »Unserer schönen  Heimat[1]« holte.
»Was ist jetzt?!«
Zum Glück erfasste meine Karre den Ernst der Lage und rettete uns vor der postnostalgischen Angriffslust des Schürzenjägers vom linken Ufer der Donau, die, so schien es mir, grausam und unerbittlich sein konnte. Ich weiß nicht warum, aber ich habe mich schon immer vor Leuten gefürchtet, die sich auf diese Art und Weise ihren Gefühlen hingaben. Es kam mir vor, als wären genau solche Balkan-Softies, jene auf den ersten Blick »echten Kerle« mit ihren Liedern, die sie jeden Augenblick zu Tränen rühren können, die gefährlichste aller Raubtierarten, die in diesem unwirtlichen Lebensraum zu finden sind. In meiner Phantasie waren diese Lieder-Kerle fähig, Gräueltaten zu begehen, die sich emotional weniger hitzige Subjekte nicht einmal erdenken konnten. Ich konnte mir indes lebhaft vorstellen, wie ein Mensch, der besagtem Zöllner aufs Haar gleicht, zu den Klängen der Tamburizzas sanft »Berührt mein Flachland nicht« jault und dabei ein dreizehnjähriges Mädchen aus Novi Sad vergewaltigt, als wäre es aus irgendeinem Grund auf der Welt schuld daran, dass er nicht mehr Arm in Arm mit dessen volljährigen Mitbürgerinnen die Donau entlang spazieren gehen kann.
Ich hatte einmal versucht, diese lebensgefährliche Gefühlslage Nadja zu beschreiben. Zu diesem Zweck hatte ich sie die »infantile Balkan-Empfindung« genannt und sie als eine bedeutende Zutat im unausgewogenen brüderlichen Gemetzel, das sich hierherum wie ein Ritual alle fünfzig Jahre vollzieht, identifiziert. Die Idee des letzten aus einer Reihe hiesiger Genozide, hatte ich ihr erklärt, sei vielleicht wirklich kaltblütig und monströs durchdacht gewesen, bei der eigentlichen Ausführung jedoch seien die Hobbyschlächter ohne Zweifel der Reihe nach der »Sevdah-Empfindung« verfallen und hätten zu den Klängen der Harmonika gleichzeitig Gläser und Köpfe zerschlagen.
Ich zumindest habe mir die balkanischen Mörder schon seit langer Zeit so vorgestellt. Sie sind für mich nie seelisch tote Vollstrecker fremder Befehle gewesen. Nein, in meinen Ängsten waren sie eine durchschwitzte, besoffene Kumpanei, die während der Peinigung der Gefangenen zu denselben wunderschönen Liedern »abging«, zu denen sich einst ihre Opfer verliebt und  geheiratet hatten. Das war für mich nun mal das Gleichnis des Krieges in Bosnien, ein großer »Sevdah nightmare«, eine einzige Blutorgie des Seelenschmerzes. Die Rache unglücklich verliebter und ewig unreifer Verrückter. »Böse Menschen haben keine Lieder[2]« dachten sich vermutlich diese uniformierten Halbwüchsigen, während sie über das Schlachten und das Werfen in Gruben sangen und sich dabei umarmten, küssten und voreinander ihre empfindsamen Balkanseelen öffneten. Alles war nur ein einziges Leiden und Trauern übermäßig sentimentaler Neandertaler.

***

»Weißt du, er hatte niemanden außer dir und Duša. Als man ihm euch wegnahm, ist für ihn die ganze Welt zusammengebrochen.«
Ich wusste nicht, wer ihm uns weggenommen haben soll, und hatte den Verdacht, dass dies noch eine der Verschwörungen gegen die Serben und Serbien war, aber das, worüber Danilo geredet hatte,  erschreckte mich dennoch ein wenig. Es kam nämlich einem stillen und schlecht verborgenen Geständnis nahe, wonach die Möglichkeit bestand, dass Nedeljko doch etwas von dem getan hatte, weswegen er verfolgt wurde. Und zugleich einer Rechtfertigung dessen.
Ich fuhr, wie passend, am Erinnerungsort für die Gefallenen der Syrmischen Front vorbei, und plötzlich schoss es mir durch den Kopf, dass vielleicht auch Nedeljko einer jener psychopathischen Sensibelchen war, die bewaffnet mit einem Bataillon Irrer unter ihrem Kommando überall nur ihre Henker sahen. Vielleicht hatte auch ihm der unerträgliche Schmerz wegen des Zerfalls seiner Familie in einem Moment den Verstand so sehr getrübt, dass er diesem Schmerz nur noch gehorsam auf dessen mörderischem Rachefeldzug folgte.
Und auf einmal schien es mir nicht mehr so überaus unwahrscheinlich, dass mein Vater ein Dorf voller Frauen und Kinder dem Erdboden gleich gemacht haben soll. Ich sah ihn, wie er mit Tränen in den Augen dem Wüten seiner Soldaten zusieht und dabei den unmenschlichen Schreien der zum Tod Verurteilten zuhört, als wären sie die wehmütige Stimme von Toma Zdravković, und wie sie ihn nicht um Hilfe rufen können, weil sie lediglich seine emotionale Hypnose vertiefen. Womöglich sah Nedeljko wirklich, wie lebendige Menschen brannten, wie Mütter dem Sterben ihrer eigenen Kinder zusahen und wie bartlose Soldaten bucklige Greise abschlachteten, aber er konnte sich nicht mehr aus der vorübergehenden Unzurechnungsfähigkeit herausreißen. Er versank im schmerzlichen Gefühl, ausgespielt, ausgeliefert und betrogen zu sein, und er säte Tod, um dieses Leben zu bestrafen, das ihm alles genommen hatte, was ihm lieb war. Er war ein betrogener Liebhaber, Ehemann und Vater auf der Jagd nach dem Mörder seines Glücks. Womöglich wollte Nedeljko Borojević in jener slawonischen Nacht in Višnjići diesen verfluchten Krieg erschlagen, ihn zerstückeln, ihn in Brand setzen, ihn quälen, ihn zerfleischen, ihn schlachten, ihn vierteilen und pfählen. Er wollte alles vernichten, was zum Krieg geführte hatte und auch alle, die ihn sich wünschten, die ihn herbeisehnten, die ihn sich erträumten. Er wollte jene töten, die hassten, die hetzten, die zum Tod aufriefen. All das tötete und brannte Nedeljko in jener Nacht womöglich nieder.
Wer weiß, wann  Nedeljko Borojević und ob er überhaupt jemals ganz aus diesem Wahn erwacht ist und blutbefleckt festgestellt hat, dass er anstelle des Krieges nur vierunddreißig völlig unschuldige Menschen getötet hatte. Und dass sich der Krieg, während sein Feuer im niedergemetzelten Dorf langsam erlosch, nur noch weiter entflammt hatte und unaufhaltsam über die Sava ergoss.

Einleitung und Übersetzung aus dem Slowenischen von Franziska MAZI, Basel.

Quelle: Jugoslavija, moja dežela / Goran Vojnović. © Študentska založba 2012

[1] Anm. d. Ü.: „Lijepa naša domovino“ (dt.: Unsere schöne Heimat) ist der Titel der kroatischen Nationalhymne.

[2] Anm. d. Ü.: “Ko pjeva zlo ne misli” (wtl.: “Wer singt, der denkt nicht bös”) ist der Titel einer kroatischen Musikkomödie aus dem Jahre 1970.

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Jurij IZDRYK: Levels of Lviv, Essay-Auszug (Aus dem Ukrainischen von Constanze AKA)

28. 1. 2014

Einleitung

Jurij Izdryk ist Dichter und Schriftsteller, Maler und Journalist, Musiker und Übersetzer, Performer und Blogger. 1962 in der ukrainischen Kleinstadt Kalusch geboren, eroberte er in den neunziger Jahren die ukrainische Literaturszene, wurde Teil des Stanislawer Literaturphänomens und gehört heute zu den bedeutendsten ukrainischen Autoren, die sich dem Stil der Postmoderne verschrieben haben. Izdryk liebt das Unerwartete, er wirft einen besonderen, mitunter verfremdeten Blick auf die Welt. Izdryk schreibt nicht nur, er komponiert Zeichen und Töne, Bedeutung und Klang. Das Spiel mit der Sprache geschieht dabei nicht allein auf dem Papier. In den virtuellen Weiten des Internets führt er ein Totes Tagebuch, sein neuestes Werk Izdryk J. entstand auf diesem Blog. Und mit Dichter Hryhorij Sementschuk experimentiert er in der Welt der Klänge, zusammen bilden sie das musikalisch-poetische Projekt „DrumТИатр“. LICHTUNGEN veröffentlicht in Zusammenarbeit mit TransStar Europa in diesem Jahr erstmals deutschsprachige Übersetzungen von Izdryks Essays. „Levels of Lviv“ erschien 2009 im Essayband Der 2-Gigabyte-Stick und ist ein Paradebeispiel für den ganz eigenen Blick, den Izdryk auch auf die Städte seiner Heimat zu werfen vermag. Denn wer außer ihm wagt es schon, Lwiw – eine stolze Stadt mit bedeutendem architektonischen Erbe – zuerst einmal als Trümmerlandschaft vorzustellen?

Als ich 2003 nach einer mehrjährigen Pause nach Lwiw kam, war die Stadt nicht wiederzuerkennen. Es gab eigentlich gar keine Stadt mehr. Das infernale Virus, ein Bote der Apokalypse, vor der Hollywood-Skripts über endzeitliche Epidemien immer wieder warnen, war tatsächlich auf die Zivilisation niedergegangen. Es befiel jedoch keine Menschen (wie es die meisten Skripts beschrieben), sondern tote Materie. Selbst ohne physikalisches oder chemisches Detailwissen war offensichtlich, dass das Virus die zementierenden Komponenten des Zements und die Strukturbausteine der meisten Ziegelarten zersetzt hatte.

[…]

Die Ruinen der Stadt, die Trümmerhaufen und der postkatastrophale Müll bildeten eine unwirkliche, einigermaßen gleichmäßige, wenn auch hügelige Landschaft, sie sogen das Wasser auf und zerfielen, verflüssigten und zersetzten sich, brodelten und schäumten, kochten und warfen Gasblasen, die sich bei Luftkontakt entzündeten. Wie kosmisches essigsaures Gras züngelten alsbald blaue Flämmchen über den Boden, sie hatten ihn im Nu großflächig überzogen. Aus diesem schaumigen Gebräu krochen nach und nach Tentakel der allerklebrigsten Sorte hervor: Sie waren feucht wie Ton oder harzig wie Flüssiggummi und verschlangen alles. Diese Gummimasse blieb nicht lange flüssig, sondern versteinerte bald, sie zementierte auf der Stelle jeden ein, der mehr als knöcheltief in den zähen Brei eingesunken war. Die Öffnungen, aus denen heraus sich die blauen Feuerzünglein ihren Weg bahnten, verkohlten an den Rändern und bekamen Risse, das Feuer gewann an Kraft, wurde dichter und brach durch jeden Spalt und jede Ritze.

Eine Panik brach nicht aus. Nur Katastrophen, die kinematographischen Standards entsprechen, können eine Panik auslösen. Hier aber geschah zugleich etwas Wunderschönes und Mörderisches. Der Tod überraschte die meisten so plötzlich, dass es gar nicht erst zu massenhaftem Klagen und Schreien kam. Das Unheil verbreitete sich schnell und unvorhersehbar, die wenigen Überlebenden verdankten ihre Rettung eher dem mathematischen Zufall als der eigenen Geschicklichkeit oder dem Selbsterhaltungstrieb. Ich schwang mich auf die metallenen Arme von Taras Grygorowytsch Schewtschenko, nicht, weil ich Rettung suchte, sondern weil ich mich nach einer starken, väterlichen Umarmung sehnte, selbst wenn sie nur von einem Denkmal kam. Ich saß auf den Schultern des Dichters und verfolgte vollkommen unbewegt die Lwiwer Apokalypse. Mehr noch: Genauso unbewegt stieß ich mit meinen Füßen die anderen Anwärter auf Taras‘ Schultern weg. Nicht, dass ich mich im Überlebenskampf besonders angestrengt oder nebenbei im Kopf mögliche Rettungsvarianten durchgespielt hätte. Vor dem Hintergrund des planetaren Infernos – die Größe eines Planeten hängt von der Sichtweite des Einzelnen ab und weil ich intuitiv höher geklettert war als alle anderen, konnte ich auch weiter sehen, mir erschien der Planet größer und ich hatte einen  besseren Überblick über die denkbaren Rettungsszenarien. Also, vor dem Hintergrund dieses planetaren Infernos verloren moralische Bedenken ihren Imperativ, so schnell wie ein Spinnengewebe aus dem Vorjahr in der Sonne aufflammt und verbrennt.

An einem Ende des Prospekt Swobody, dort, wo früher die Oper gestanden hatte, wurden die Flammen röter, breiteten sich aus und hoben sich als heller Schein vom blau leuchtenden Hintergrund ab. Das Holzgerüst des Theaters brannte. Erst durch die Epidemie erfuhren wir überhaupt von dem Gerüst: die Steinmauern waren zu Staub zerfallen und hatten ein architektonisches Skelett entblößt, aus Holz gezimmert und mit Salzen aus Solotwyno imprägniert. Das salzgetränkte Holz mit seiner Resonanzfähigkeit war also der Grund für die ziemlich gute Akustik der Oper gewesen. Wahrscheinlich bewirkte das Salz auch, dass über dem Theater kein schwarzer, sondern weißer Rauch aufstieg, als hätte man im Epizentrum des Feuers gerade den neuen postapokalyptischen Papst gewählt.

Plötzlich meinte ich in den Nebelschwaden eine unnatürliche Simultanität der Luftströme zu erkennen. Ich war beinahe überzeugt davon, dass diese kleine optische Täuschung eine Folge des durchlebten Schocks war, und doch zwang mich mein Misstrauen – vorerst klein und schwach –, über mein weiteres Vorgehen nachzudenken. Außerdem wurden unter mir Taras‘ Schultern immer heißer. Lange konnte ich hier nicht mehr herumsitzen. Ich trat auf dem Dichterkopf kurz von einem Fuß auf den anderen, stieß mich dann ab und sprang plump in die Richtung, in der man in den Flammen die glühende Bronzestele Schoß der Ukraine vermuten konnte. Der Sprung, obwohl scheinbarer Selbstmord, stellte sich als rettend heraus: Eine von der Glut gleichmäßig aufgeheizte Luftwelle trug ein Stück Werbebanner heran, das ich im Fall von der verbogenen Säule einfing und von dem ich mich wie ein professioneller Fallschirmspringer tragen ließ. Als sich die Auftriebskraft der Wärme erschöpfte, sah ich, dass die noch glühende Kruste ihre Substanz wiederum veränderte und sich in eine Schlammflut verwandelte. In deren Strömung bemerkte ich, genau wie in den Rauchschwaden über der Oper, eine verdächtige Simultanität, die mich in meinen Rettungsplänen nur bestärkte. Ebenso rätselhaft war das Verhalten der Stadtvögel: Krähen, Kolkraben und Tauben ließen sich wie Möwen vom Strom tragen und einfach in die brennende Höhle des Operngerüsts treiben. Anstatt weiter ins Epizentrum des Feuers zu fließen, verwandelte sich der Strom plötzlich in einen Strudel und bildete einen ziemlich stabilen Trichter mit einer alles absorbierenden Öffnung. Der Intuition der Vögel vertrauend landete ich gekonnt auf dem Kamm der nächsten Schlammlawine und ließ die Gesetze der Hydrodynamik für kurze Zeit zum entscheidenden Faktor meiner Existenz werden. Mit dem, was wir in der Schule an Gesetzen gelernt hatten, war das natürlich nicht annähernd zu vergleichen. Darauf wiesen nicht nur das Strömungsverhalten und der Charakter der Wellenbildung hin, sondern auch die offensichtliche Pixelung des erkennbaren Mikrokosmos. Als es mich in den Strudeltrichter zog, hätte ich schwören können, dass ich mich auch aus Pixeln zusammensetzte, wobei ich nicht besonders gewissenhaft digitalisiert worden war. Um einiges wirklichkeitsgetreuer und realistischer war die Darstellung der Tschajka, eines Kosaken-Segelbootes, das an einem seichten Ankerplatz an den Ufern eines unterirdischen Arms der Poltwa festgemacht war. Die Schlammflut verwandelte sich fast gänzlich in dunkles, undurchsichtiges Wasser, wobei man die trüben, miteinander vermengten Wasserläufe selbst mit einer der ersten Photoshop-Versionen hätte generieren können. Als ich also ohne besondere Anstrengung einige Meter weiter geflogen war (nun schon ohne die Hilfe äußerer, übernatürlicher Kräfte) und geschickt auf dem Deck der Tschajka landete, wunderte ich mich kein bisschen, als in einem peripheren Ausschnitt meines Sichtfeldes ein neonfarbiger Slogan aufleuchtete: „You’ve got bonus life“. Genauso wenig wunderte ich mich, als am virtuellen Himmel glitzernde Nordlichter aufblitzten, die sich bald zu einer gänzlich lesbaren phosphoreszierenden Nachricht fügten: “Congratulations! You won. Now you can enter the next level! Your choice is a new game “’Levels of Lviv!’“.

P.S.: So hörte für mich das Jahr 2003 in Lwiw auf. 2004 kam ich schon auf meiner eigenen, ehrlich verdienten Tschajka zurück. Die war zwar kein Boot von kosakischer Herkunft, in ihrer paradoxen Erscheinung eines sozialistischen Luxuswagens aber dennoch von historischem Wert.

 Einleitung und Übersetzung aus dem Ukrainischen von Constanze AKA, Berlin

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Tomasz RÓŻYCKI: Bestiarium, Romanauszug (Aus dem Polnischen von Marlena BREUER)

28. 1. 2014

Einleitung

Der Protagonist der Romans wacht in der Nacht auf, in einer ihm unbekannten Wohnung. Er hat schrecklichen Durst. Auf der Suche nach Wasser und seinem Zuhause durchquert er die Stadt und findet sich plötzlich in einem Haus wieder. Dort trifft er Mitglieder seiner phantasmagorischen Familie an, bekommt einen Schlüssel und macht sich mit diesem auf zu einer geheimen Mission durch das Gewirr der Keller unter der Stadt.

Über den Autor.

 I

In jener Nacht war ich aufgewacht mit dem Gefühl, dass mein Leben eine halbe Drehung gemacht und die Welt plötzlich mit Knirschen und Gepolter angehalten hatte. Die Uhr eilte noch ein bisschen weiter, rikitikitak, die Macht der Gewohnheit, danach trat Stille ein, und nur ein Schatten huschte wie ein Dieb über die brandgeschwärzte Wand.  Die Nacht war violett und schwer.

Ungemütliche Stille, nur die Verdauungsstimmen aus dem System, einzig das Rumpeln der Därme, Gurgeln im Bauch, das schmerzliche Knarren der Haare, wie wogender Mais auf verdorrtem Feld, die ausgetrocknete Zunge scheuert an der Kehle, Bimsstein und Stachelkies, rissiger Asphalt.

Ich wachte auf mit tauben Gliedern, mitten in der Stadt, an einem ungemütlichen und engen Ort – und erhob mich, nicht ganz bei mir, als risse ich mich von etwas los. Und ich begriff, dass ich mich nach wie vor im Traum befand, als ob die Nacht noch ganz auf mir läge, glucksend und schnurrend.

Ich wusste nicht genau, wo ich war. Der Stuhl, die Wand, die Decke waren bekannt und unbekannt, wie im Traum. Das Bett meines und nicht meines zugleich, meine und nicht meine Tür. Verwischt, ungewiss, ohne klare Konturen.

Ich erwachte, als hätte jemand gerufen, mit tauben Gliedern, gleich fehlte mir ein Arm, ein Bein oder ein anderer, unbekannter Körperteil. Ich warf das Gewicht der Nacht von mir ab, und das Dunkel rollte sich mit einem Seufzen auf den Fußboden. Ich erhob mich aus der Asche des Bettzeugs, befreite mich aus den Schnüren, den Kokons und Fäden. Getrieben vom Druckunterschied zwischen Schlaf und Wachzustand, einem Platschen im Kopf, einem schrecklichen Durst, machte ich mich auf den Weg in die Küche, um Wasser zu suchen.

Weniger jedoch auf den Beinen, denn die fühlte ich nicht, eher anders, ohne klare Vorstellungen wie, mehrmals stürzend auf dieser kurzen Strecke. Mein Körper dürstete wahnsinnig nach Wasser, er wollte aufleben. Dieser Traum war offenbar erhebend, aber beunruhigend.

Als ich aufstand stieß ich an undefinierbare und unerwartete Gegenstände, Tisch, Fußboden, Schwelle, Schränkchen und Kommode, als hätte sie jemand hingestellt, wahllos, zahllos, aus Bosheit.

Ich kam in der Küche an, stieß an das Spülbecken, und es antwortete mir mit dem hohlen Stöhnen einer geplagten Seele. Also drehte ich den Wasserhahn auf, aber dieser röchelte nur, krähte und gluckste, gackerte und zischte, knurrte und rasselte, verbog sich und ruckte, und endlich, mit einer gequälten Konvulsion, ließ er einen einzigen Tropfen heraus, der mit schrecklichem Dröhnen in den Schlund des Spülbeckens fiel, zwischen die Stapel von Geschirr, schmutzigen Telernr, fettigem Besteck, zwischen die Töpfe, Tassen, Becher, zwischen Gläser, Löffel und Platten, dorthin, in den Abgrund, auf den Boden des Verlustes, und verschwand, geschluckt vom Nichts, bevor ich es schaffte, eine halbe Bewegung auszuführen, angewurzelt, wie verzaubert.

Beim leeren Geräusch des Falles zuckte die Finsternis, die ganze Wohnung hüpfte leicht auf, und die Dunkelheit zuckte zusammen und die Unterwäsche blitzte für einen Moment, für einen Moment zeigte sich die Nacktheit, für ein augenblickkurzes Aufblitzen. Und bevor ich begreifen konnte, was ich gesehen hatte, schloss sich die Nacht wieder.

Es war so, als ob ein Tanz im Gange wäre, aber bewegungslos, in den anderen Zimmern, hinter dem dunklen Vorhang, und dort glänzte wirbelnd die silberne Kugel, und ein Rhythmus war zu hören, schrrrr, er verließ mich nicht, seit ich die schweren Lider gehoben hatte. Ich feierte noch ein bisschen alleine weiter, unbedeutend, leise, unbemerkt, innerlich tanzend, irgendein Fest dauerte in mir immer noch an, es gluckste, das verdaute Fest, das die Phase des Aufstoßens erreicht hatte.

Dabei weiß ich nicht einmal, was hier stattgefunden hat. Und der Mond scheint, scheint blass, aber hartnäckig und tötet mit Licht, durchbohrt mit seinem Strahl. Alles hier ist wie in einem Totenhaus, hingemetzelt vom Mondlicht, versilbert, denaturiert, kalt.

Auf dem Boden liegen Körper irgendwie zusammengeknäuelt, leicht stöhnend, Beine und Arme, spürbarer Herzschlag, Zittern, Schnarchen. Etwas gluckert in ihnen, irgendeine unterirdische Sprache schwillt an, aus der Tiefe, aus dem Bauch heraus. Ein Tiefendiskurs, denn in diesem Knäuel erkenne ich sicher einen Lehrkörper und einen akademischen Körper, und ihr Diskurs dort dauert an, brummelt etwas. Der Mond besabbert sie mit seinem Licht und schaut in ihre Lücken, ihre Pausen, lässt Attribute und Pronomen klingeln. Mit seinem Leichenlicht röntgt er sie, die silberne Nadel tötet, durchsticht, enthüllt ihre inneren Windungen, das innerliche Gären. Weg hier!

Und plötzlich ich, Magister der  Fremdsprachlichen Philologie, in einer fremden Wohnung, in dieser Lage, mit Kampfspuren auf der Kleidung. Kennenlernabend? Integration des Lehrkörpers. Was, verdammt noch mal? Was wird meine Frau dazu sagen? Meine Kinder? Wo sind sie jetzt? Um vier in der Früh hat mir die Welt einen ordentlichen Streich gespielt und mich reingelegt, mich in ein Wunder hineingelegt. Als ob ich immer noch besoffen wäre, als ob ich unbekannten Stoff geraucht hätte.

Ich war im Traum und alles Absurde wurde möglich, das Absurde wurde Normalität.

Ein Mondstrahl fiel auf die zitternde Scheibe in der weißlichen Anrichte, und ich sah die Küche und Wohnung, die mir bekannt waren, aber gleichzeitig konnte ich nichts wiedererkennen.

Wer hatte hier so einen Dreck gemacht? Warum stand da eine Reihe von Flaschen, aber alle leer? Ich schaute in jede einzelne hinein, vielleicht war doch noch ein Tropfen unten drin, doch nein, nichts, jemand hatte alles geleert. Dasselbe in den Vasen mit den schon lange vertrockneten Blumen, leer die Karaffen, im Kühlschrank sechsfarbige Schimmelpilze auf Packungen, Gläsern und in den Dosen, und nichts zu trinken, kein Tropfen Wasser.

Und Leere in den Schränken, in den Regalen, in der Speisekammer. In dem mit Kalkrändern und Riffen überwachsenen Badezimmer ebenfalls nichts, kein Tropfen Wasser, keine Spur von Beschlag auf dem Spiegel, nicht einmal Feuchtigkeit auf der Fensterscheibe, auf den Rohren, nicht ein einziger rostiger Tropfen, der versteckt hinter dem Rohrbogen des Waschbeckens leuchtet, auf dem Duschsieb. Ich robbte also zum Hahn des Waschbeckens, dieses Mal vorbereitet, mit herausgestreckter Zunge, um den fallenden Tropfen gleich aufzufangen.

Es war klar, dass ich es mit einer boshaften Störung der Wasserleitung zu tun hatte, irgendwo dort unter der Erde, unter dem Sand, dem Gehweg, unter Lehm und Ton, war etwas passiert – Korrosion hatte das Metall angefressen, der Stein hatte es gesprengt und das Rohr war geplatzt, Wasser war geflossen und hatte die benachbarten Keller überflutet. Also auf allen Vieren mit vorsorglich herausgestreckter Zunge. Zum Wasserhahn, und im Wasserhahn ein merkwürdiges Röcheln, Würgen und Dröhnen, Gluckern und Poltern, Schmatzen und Krachen, aber kein einziger Tropfen.

Er knurrte, zischte und pfiff. Und ich spürte, dass er, statt Wasser zu spucken, durch einen starken Unterdruck gewaltsam die Luft einzusaugen begann, und da ich mit der Zunge seine Öffnung verstopft hatte, saugte er meine Zunge ein. Vergeblich riss ich mich nach hinten, um mich zu retten, die Kraft des Wasserhahns war mächtiger, ich spürte meine Zunge hineingezogen vom Gähnen sämtlicher Wasserleitungen, von Tausenden Metern Kanalisation, einem Gewirr von Rohren, einem Spinnennetz von Röhrchen, Rohrbögen, Ventilen, Boilern, Wannen, Reservoirs, Badezimmern, Pissoirs und Schwimmbädern.

 Einleitung und Übersetzung aus dem Polnischen von Marlena Breuer

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Vladimir STOJSAVLJEVIĆ: Sommerliches Kriegstagebuch, Romanauszug (Aus dem Kroatischen von Evelyn STURL)

28. 1. 2014

Einleitung

Aus der Sicht eines Schuljungen, der nicht einzuordnen weiß, was um ihn herum passiert, wird in „Sommerliches Kriegstagebuch“ (Ljetni dnevnik rata) die Tristesse Zagrebs im Jahr 1991 beschrieben. Die kindliche Naivität, die sich dank des jungen Ich-Erzählers durch den Roman zieht, verleiht den wahren, grauenhaften Gegebenheiten des Jahres 1991 einen grotesken Ausdruck.  Der Tagebuchstil, den Vladimir Stojsavljević im Roman an den Tag legt, kommt dem Gefühl der damaligen Zeit sehr nahe, da – wie auch in einem Tagebuch – alles Zukünftige stets ungewiss ist. Es gelingt dem Autor, eindrucksvolle Bilder und bemerkenswerte Figuren zu zeichnen. Der 1992 erschienene Roman gilt als das erste Prosawerk, das sich mit dem Krieg in Kroatien beschäftigt.

ICH HABE FERNSEHVERBOT.

Das Verbot dauert erst ein paar Tage, aber mir kommt es so vor, als ob schon Monate vergangen wären. Genauer gesagt kann ich nur dann fernsehen, wenn Mutter in der Zeitung nachliest, was im Programm läuft und dann selbst den Fernseher einschaltet. Erst, wenn sie sich eine Szene aus einem Film oder einer Serie ansieht, ruft sie auch mich und dann komme ich in Großvaters Zimmer. Auf dem Tisch schwimmen Rosen in einer Glaskugel. Mama wechselt sie regelmäßig aus und Großvater wird böse, wenn sie es vergisst. Ich weiß nicht, warum er Rosen so mag. Und so flimmert der Fernseher und ich schaue gar nicht hin. Ich schaue den Holzesel auf dem Schrank an, in dessen dunklen Satteltaschen – das weiß ich – Großvater seine Cognacfläschchen versteckt hält. Ich habe keine Fernbedienung. Sie hat sie eingesteckt. Wir haben gemeinsam Filme geschaut, doch jetzt geht Mutter ins Nebenzimmer, um mit Vater etwas zu besprechen – leise, kurz, unverständlich. Opa stiehlt währenddessen Speck aus dem Kühlschrank in der Küche. Wir sind beide unglücklich. Er, weil es ihm verboten ist, Speck zu essen, und ich, weil ich den Fernsehsender nicht wechseln kann. Irgendwann sind sie zur Arbeit gegangen und ließen mich vor dem Bildschirm und ich konnte stundenlang mit der Fernbedienung die Welt regieren. Mehr als das geht im Übrigen nicht mehr. Ich verstehe nicht, warum. Als kleiner Junge lernte ich sprechen, indem ich von einem Gegenstand zum nächsten lief und immer wieder denselben Satz wiederholte: „Aber, aber, Mislav!“ Dieses dumme „Aber, aber“ ist in mein Leben zurückgekehrt.

Ich glaube, dass ich nicht ohne das Fernsehen leben könnte.

Alles, was mein Leben ausmacht, war zuvor auf dem Bildschirm. Ich habe mithilfe der Untertitel am Bildschirm lesen gelernt, und nachdem sie einen Farbfernseher gekauft hatten, begann ich auch zu träumen. Vielleicht habe ich auch schon davor geträumt, aber ich fing an, mir wegen der Farben am Bildschirm die Träume zu merken. Ich liebe es, wenn es auf dem Bildschirm schneit, denn dabei sammeln sich irgendwann Scharen von Pünktchen im Bild, das dann zu leben beginnt. Es gab Tage – das gebe ich zu – wo mir das Angst machte. Dann habe ich mir selbst erklärt, warum das Bild erlischt. Die Menschen, die die Programme machen, gehen schlafen. So habe ich gelernt, dass die Weiße-Bildschirm-Zeit Schlafenszeit ist. Und wenn man sich hinlegt und die Augen schließt, kann man sich eigene Bilder machen. Am Anfang waren es stumme, zaghafte und unstete Bilder, aber mit der Zeit fingen sie an, zu sprechen. Die größten Auseinandersetzungen mit Vater wickelte ich im Traum auf dem Bildschirm  ab. Manchmal habe ich sie beim Frühstück fortgesetzt, was ihn verwirrte. Auch mich. Jetzt attackiere ich ihn nicht mehr. Irgendwie mag ich ihn sogar auch. Heute führt er heftige Kriege mit seinem Vater. Mich lässt er in Frieden wegen der Krankheit. Ja, ich habe vergessen zu sagen, wie krank ich bin. Asthma. „Mit der Pubertät wird es vorüber sein“, erklärte der Arzt meiner Mutter. Mich persönlich schränkt diese Krankheit nicht ein, aber die Eltern nützen sie für verschiedenste Beschränkungen. Wie jetzt das mit dem Fernsehen. Ich weiß nicht, wer am Fernsehverbot der Hauptschuldige ist, aber ich kümmere mich auch nicht darum, das herauszufinden. Es gibt eine wichtigere Sache.

Als Einzige trägt sie einen Kittel in dunkelblauer Farbe mit einem Kragen, den man offenbar auswechseln kann. Das eine Mal ist er ganz weiß und abgerundet, das andere Mal hellblau und spitz. Die gelockten Haare und die neugierige Nase, immer ein bisschen nach oben gestreckt, mildern die Strenge ihres Kleidchens. Sie wird nie laut, sie ist ruhig, ihr Blick trifft dich so, als würde sie vor nichts zurückweichen.

Sie legte mir verschiedene Geschenke unter die Bank. Bonbons, einen Schokoriegel, eine halbe Birne, einen Buntstift. Ich brauchte Tage, bis ich begriff, wer das macht. Sie ging in den Vormittagsunterricht, während ich den am Nachmittag besuchte. Jetzt sind wir im selben. Das Mädchen vom Haus gegenüber. Die, die eine Hexe gesehen hat. Jasna. Jasna, die nie ans Meer fährt.

Dieses Jahr werden auch wir nicht ans Meer fahren. Darüber bin ich glücklich, denn ich hasse Brote mit Tomaten. Ich kann mich auch nicht für das Salzwasser begeistern. Und dann gibt es diese dumme Situation, wo du andere Kinder kennen lernen musst, weil sich die Erwachsenen beim Schach- und Kartenspielen amüsieren. Damit die Kinder beschäftigt sind, zwingen sie uns zu gemeinsamen, langweiligen Spielen. Das alles wird es diesen Sommer nicht geben. Ich hörte auch, wie Opa davon redete, dass er nicht aufs Dorf fahren wird und er die Straße nicht passieren kann. Es ist gefährlich. Ich fragte ihn, warum es gefährlich sei, und er ging brummend aus der Wohnung. Prinzipiell verschweigen mir alle im Haus etwas. Sie sollen sich ruhig anstrengen. Es wird mühsam, weil ich einen Idioten spielen muss, der nicht begreift, worüber die Erwachsenen in ihren verschlüsselten Botschaften sprechen. Alle in der Familie hegen zur Zeit das eine oder andere Geheimnis. Und jemand, der ein Geheimnis hat, redet wenig. Das Geheimnis fällt aber trotzdem wie ein Bissen aus dem Mund, so wie auch ein Marmeladebrot immer auf die bestrichene Seite fällt.

Großvaters Geheimnisse sind in der großen Truhe eingeschlossen, auf welcher der Fernseher steht. Oft verändert Vater in unserem Haus die Einrichtung und deren Anordnung, aber diese Truhe ist der einzige Gegenstand, den man nie auswechseln wird. Manchmal sperrt er sie auf. Der Deckel knarrt, Großvater hebt ihn vorsichtig an und nimmt eine alte Fotografie heraus. Sie versetzt ihn so sehr in eine andere Zeit, dass er nicht bemerkt, wie ich hinter ihm stehe. In der Truhe waren ein Gürtel, eine Troroga, eine Tasche mit einer völlig ausgebleichten Karte und einige Bücher mit unansehnlichen, sandgrauen Umschlägen. In der Mitte der Truhe steht eine Schuhschachtel, gefüllt mit Fotos, mit einem Aufkleber, dessen kaum mehr sichtbare Aufschrift den Namen einer Firma zeigt. Das Foto, das Opa betrachtet, ist eine Fotografie von Großmutter. Als Zierde hat es einen Zackenrand. Großmutter steht in weißen Wollstrümpfen, Stiefeln und einer Uniform bei einem Stuhl in einem Fotostudio und schmunzelt. Die junge Frau ist wie die Schauspielerinnen in den Filmillustrierten beleuchtet und trägt einen sehr langen geflochtenen Zopf. Sie lacht so schön, dass durch ihr Lächeln alles angenehm und gegenwärtig wirkt. Großmutter habe ich nie gesehen, aber ich weiß immerhin, wie sie lacht. Und ich kann dieses Lachen hören, wenn ich in die Sonne schaue, um schneller zu niesen. Opa jedoch seufzt bei diesem Lachen, er leidet, wartet, dass er zu weinen beginnt, aber es gelingt ihm nicht und dann schüttelt er sich wie nach einem Regen ab, verschließt die Fotografie und dieses zauberhafte Lächeln wieder in der Truhe. Die Truhe: Der einzige Gegenstand, der noch nach den Erinnerungen an das Dorf riecht, aus dem er gekommen ist. Ich würde gerne mit ihm plaudern, ihn fragen, woran er sich erinnert hat, wo die Fotografie aufgenommen wurde und ob sie eine Widmung hat. Ich weiß, dass ich ihn allein lassen muss. Ich flüchte. Ich flüchte ans Fenster, durch welches die Bienen gemeinsam mit dem Duft der überreifen Kirschen eindringen, die wir diesen Frühling nicht gepflückt haben. An den Kirschbäumen nähren sich die Amseln, wie auch meine Angst. Ich fürchte mich davor, dass Opa an Kummer stirbt und so sein Geheimnis für sich behält.

Meine Mutter arbeitet im Kindergarten. Oft bringt sie Essen in kleinen Behältern mit, deren Ohrenhenkelchen mit einem violetten Bügel verbunden sind. Die Behälter sind hellleuchtend und grün und der Inhalt ist ebenso hell und bleich. Das Essen schmeckt nicht, der Salat ist immer welk und die Kuchen sind wirklich fürchterlich. Zum Glück haben wir dieses Mittagessen nicht wirklich oft, sondern nur, wenn sie bis in den späten Nachmittag Bereitschaftsdienst hat. Meine Mama kann nicht kochen. Alles kocht ihr über, sie kann nicht richtig salzen, das Fleisch brennt ihr an. Die Küche ist überhaupt der aufregendste Ort in unserer Wohnung. Dort werden auch pädagogische Maßnahmen durchgeführt. Nein, nein, es verprügelt mich nie jemand. Aber in diesem blöden Raum stopfen sie Fischölkapseln in mich hinein. In diesen grässlichen Küchenschränken wartet die Medizin auf mich, die ich wegen der Allergie, und damit ich nicht ersticke, schlucken muss.

Einleitung und Übersetzung aus dem Kroatischen von Evelyn STURL, Novi Sad

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Jan BALABÁN: Emil, Erzählung (Aus dem Tschechischen von Magdalena BECHER)

28. 1. 2014

Einleitung

Der Band Možná že odcházíme (Vielleicht gehen wir weg) ist eine Sammlung aus 20 einzelnen, kurzen Erzählungen. In den Texten legt Balabán den Fokus auf die Tragik individueller menschlicher Schicksale und konzentriert sich dabei oft auf Schlüsselmomente im Leben seiner verloren wirkenden Anti-Helden. Dabei seziert er nicht alles bis ins Detail, sondern skiziiert ein Gesamtbild, das dem Leser viel Raum für das eigene Erleben lässt. Durch seine Sprachkraft entwirft Balabán sowohl bildlich, als auch klanglich in sich stimmige Kompositionen. Der Erzählband wurde in der Umfrage der tschechischen Tageszeitung Lidové noviny zum „Buch des Jahres 2004“ gewählt. Im Jahr 2005 bekam Balabán für Možná že odcházíme den Magnesia-Litera-Preis in der Kategorie Prosa.

[...]

„Es ist noch Zeit!“ Die schwefelgelben Ziffern des Weckers zeigten zehn nach vier. „Es ist noch Zeit!“

Emil beruhigte sich mit der Vorstellung, dass er noch mindestens drei Stunden nicht würde aufstehen, sich nicht würde bewegen müssen. Die Ränder dieser Aussicht trübten sich jedoch bei dem Gedanken daran, dass es schon in zwei Stunden losgehen würde. Die Geräusche der Straße würden kommen, die Lastwagen würden aus den Depots herausrollen, die Elektrischen sich in Bewegung setzen wie Spielzeugbahnen, wenn man die Batterien verbindet. Die Müllmänner werden unter den Fenstern lärmen. Dazu noch die Geräusche des Hauses. Hinter den Mauern werden sich die  Menschen bewegen, Toiletten werden spülen, und in den Bädern wird Wasser rauschen. Schritte auf der Treppe. Ach. Er zog sich die Decke bis unters Kinn.

Und dann die Geräusche der Wohnung. Der Hund kratzt an der Türe. Er will Gassi gehen. Die Kinderbetten knarren. Die reglose Frau auf der Matratze neben ihm bewegt sich…bewegt sich nicht! Zuversichtlich tastet er nach ihr; sie war nicht da.

Das passierte ihm immer wieder. Er vergaß immer, wo und wie es mit ihm war. Nein, das ist keine Sache des Vergessens, im Gegenteil – des intensiven Erinnerns. [...] Davor muss er sich retten und retten kann ihn nur ein Traum. Es ist noch Zeit. Ich zwinge ihn mir herbei, sagt er sich. Ich zwinge mich in ihn hinein. Schließlich bin ich Dramatiker, ein Regisseur der Bilder. Ich bin eine Traumfabrik.

Ich setze meinen alten Wagen in Bewegung. [...]  Die Lichter der letzten Ortschaft verschwinden im Rückspiegel. Ich fahre durch einen dunklen Tannenwald. Ich blicke auf und sehe einen Streifen indigoblauen Himmel mit dem schwarzen, zackenförmigen Rand der Koniferenwipfel. Ich fahre dort hinauf, wo der Wald endet, wo die Tannen vor dem peitschenden Meereswind in die Knie gehen und nur noch Gebüsch bleibt. Weiter zieht sich das Kap nur mehr als felsiger Kamm, an dessen Ende aus der dunklen Brandung des Meeres ein Leuchtturm ragt. An ihm strahlt mit klarem Licht die Lampe, um die ich mich kümmere.

Vor dem Turm halte ich an. Ich steige aus dem Wagen, die Windstöße sind zu scharf für meine Lungen. Im Windfang der Garage zünde ich mir eine Zigarette an. Ich fahre das Auto hinein und bedecke es mit einer Wachsplane. Reiße mit dem Wind um die Wette an den Flügeln der Tür. Kann endlich den Riegel vorschieben. Ich schaue auf die Uhr. Es ist zehn nach vier. Zeit genug. Im Wind höre ich den Mechanismus des Turms arbeiten. Ich gelange bis an die kleine steinerne Mauer am Ende der Klippe. Auf dem Kamm der schwarzen Wellen zeigt sich der graue Schaum des nahenden Tagesanbruchs. …

Ich hebe den Blick und erkenne das Licht des Leuchtturms auf der gegenüberliegenden Seite. Die Häuschen, schlafend wie eine zur Nacht gekauerte Schafherde, stelle ich mir nur vor. Von ihnen führt  eine lange, lange Betonmole zum Meer, an ihrem Ende der gestreifte Stahlkamin des zweiten Turms mit einer Lampe oben drauf. 

Wenn ein Lotse unsere beiden Lichter zur Orientierung bekommt, führt er seinen Kiel sicher zwischen den Felsen hindurch, bis der dritte Leuchtturm in Sichtweite kommt, der auf dem Kap seitlich des Berges verborgen liegt.

Es ist eine klare Nacht, nicht nötig die Nebelsirene zu starten, die über meiner gemütlichen Wohnung im Fuße des Turmes heulen würde wie ein verletztes Tier, das in der Klippe hängt. Heute kann ich in aller Ruhe bei einer Tasse Tee sitzen und auf die Ankunft der ersten Vögel warten wie jeden Tag.  Deshalb bin ich hier, um bei einem starken, süßen Tee aufs Meer hinaus zu schauen und die Vögel zu beobachten. Ich schreibe ein Buch über sie. An den Nistplätzen der Vögel verbringe ich nun schon das zehnte Jahr. Das zehnte Jahr halte ich meine Laterne gefüllt, und schreibe Briefe an eine Frau, die sich auch mit Meeresvögeln beschäftigt. Sie ist wunderbar, wie ein Alk, schön wie ein Basstölpel, und ihre Briefe falten sich wie Albatrosflügel.

Am Morgen nach der Ebbe steige ich hinunter zum Strand. Der Himmel hat sich zugezogen. Aus einer hohen Wolke regnet es fein auf den Sand, den die Wellen zu einer festen Fläche pressen.

Auf den Wellen erscheint ein Boot, ein schnelles, modernes Motorboot. Auf ihm eine einzige Person, ein Mann, ein Matrose. Ich habe ihn noch nie gesehen und werde ihn nie wieder sehen, denn ein Boot kann hier nicht anlegen, höchstens zerschellen. Du winkst, du schreist vergeblich, machst Zeichen… an mein Ufer kannst Du nicht. Von dieser Seite aus kann niemand zu mir, nur die Vögel.

Emil erwachte zum zweiten Mal. [...]

 Balabán, Jan: Emil, in Možná že odcházíme, S. 155-159, Host Brno 2010.

Einleitung und Übersetzung aus dem Tschechischen von Magdalena BECHER, Düsseldorf

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Gelesenes: Yoko Tawada (Berlin): Wo Europa anfängt

20. 1. 2014

»Übersetzen macht klüger«

Wo Europa anfängt. Lesung und Gespräch mit Yoko Tawada, Ines Hudobec und Magdalena Lewandowska am 16.01.2014 in der Villa Decius in Krakau

Sie sei keine gute Übersetzerin, beteuerte Yoko Tawada bescheiden, dabei wäre sie mit ihren Sprach- und Kulturkompetenzen geradezu prädestiniert dafür, kam die 1960 geborene Schriftstellerin doch als junge Frau mit der transsibirischen Eisenbahn in den Westen, über Russland und Polen, bis sie in Deutschland anlangte. Heute könnte sie neben fremden sogar ihre eigenen Werke ins Japanische respektive ins Deutsche übersetzen, doch scheint sie mehr am Prozess des Über-setzens als Zustand des „Dazwischen“ interessiert. Dieser Prozess scheint geistige Kräfte zu aktivieren (Y.T.: »Übersetzen macht einen klüger. Der Mensch kann über alles besser nachdenken.«). Tawada übersetzte nach eigenen Angaben einen deutschen Text ins Japanische, um im Japanischen einen neuen Stil zu entwickeln. Ausserdem schreibt sie häufig über Ereignisse, die in Deutschland passieren, auf Japanisch und vice versa. Über sehr intime Personen wie ihre Eltern schreibt Tawada ausnahmslos auf Deutsch, das helfe ihr, die nötige Distanz zu schaffen. Sie macht sich als Autorin die Unterschiede zwischen den Sprachen zu Nutze und praktiziert das Übersetzen als Mittel der Verfremdung.

Aus einem Text werden durch Übersetzung mehrere Texte. Der Germanist Paweł Zarychta, Moderator der Diskussion, versuchte, Tawada auf das Thema Europa zurückzubringen (wohl ein Zugeständnis, die Veranstaltung inhaltlich an die auch finanzielle Mutter Europa zurückzubinden), doch ihre Texte wie ihr Sprechen verweigern sich pauschalen Aussagen. Wo es keinen Osten gibt wie in Japan, erübrigen sich unsere kleinteiligen Grenzen zwischen ganzem, mittlerem und jedem anderen möglichen Osten. Dennoch formuliert sie klar: “Europa ist ein Projekt”. Es reflektiere sich ständig selbst, man könne daher nicht aufhören, darüber nachzudenken. Es trägt sein steinernes Gedächtnis immer mit sich herum.

Auch Yoko Tawadas Übersetzerinnen ins Kroatische und Polnische, Ines Hudobec und Magdalena Lewandowska, weichen den Fragen nach Europa aus, als wäre auch Europa nur eine weitere “Halluzi-nation” (Tawada). Stattdessen: ein freies Gespräch zur Überfahrt von Gedanken auf den vielverzweigten Flüssen zwischen den Sprachen. Geschichtsschreibung findet hier in Märchen statt, wer die Matrjoschka wie eine Zwiebel schält, wird auf eine japanische Totenpuppe stossen. Die Gedanken kehren zurück in den Osten; dieser ist keine definierte Richtung, sondern ein Denkversuch.

“Frau Yoko” – “pani Yoko” – sagt die polnische Dolmetscherin. Wie ehrwürdig eine solche Anrede im Slavischen wird! Schade, dass von diesen Sprachwirren und -wirbeln nicht noch mehr zu hören war. Dabei hatte Yoko Tawada es selbst in jedem Satz mit formuliert: Pflegt die Differenzen! Lobt die schwarzen Löcher der Sprache!

Franziska Mazi und Martin Mutschler (Hamburg/Basel)

Hier finden Sie einige Fotos. Besuchen Sie auch unsere FB-Seite und schauen Sie sich auch ein Video an.

 

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Video: Übersetzungswürfel und TransStar in Krakau

15. 1. 2014

Hier geht es zum Video.

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TransStar-Übersetzungen II (LICHTUNGEN)

15. 1. 2014

Inhaltsverzeichnis finden Sie hier.

Lesen Sie mehr.

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Übersetzen als offene und dynamische Kunst – die erste Veranstaltungsreihe

18. 12. 2013

Der „Übersetzungswürfel“ zeigt die verschiedenen Kontexte auf, in denen literarische Übersetzungen entstehen. Dazu gehören der Einfluss von generationsabhängigen Lese- und Lebenserfahrungen, Bewegungen zwischen und innerhalb verschiedener Kulturen und Traditionen oder auch wandernde Muttersprachen. Darüber hinaus sucht das Projekt neue Ausdrucksformen für den Übersetzungsprozess, etwa in Verbildlichung und Vertonung. So wird das Übersetzen aus den alten textzentrierten Begriffen wie Treue und Schönheit herausgelöst, und es entsteht ein neues künstlerisches Gesamtgeflecht, in dem die Person des Übersetzers mit seinen vielgestaltigen Umgebungen in den Mittelpunkt rückt.

Unter den Rubriken „Gelesenes“, „Gespieltes“, „Getauschtes“, „Gemogeltes“, „Gekreuztes“, „Gesucht und gefunden“ erwarten das Publikum spannungsvolle Veranstaltungen, die das Übersetzen künstlerisch, analytisch und interaktiv in Szene setzen.

Die ersten Veranstaltungen finden in Krakau vom 16. bis 18. Januar 2014 statt.

Hier finden Sie das Programm.

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TransStar-Übersetzungen (Teil II)

6. 12. 2013

Aus dem Inhaltsverzeichnis:

PROJEKT TRANSSTAR EUROPA (II)

Claudia DATHE / Daniela KOCMUT 106
Einleitung

Jan BALABÁN 106
Emil, Erzählung (Aus dem Tschechischen von Magdalena BECHER)

Vladimir STOJSAVLJEVIĆ 108
Sommerliches Kriegstagebuch, Romanauszug (Aus dem Kroatischen von Evelyn STURL)

Tomasz RÓŻYCKI 110
Bestiarium, Romanauszug (Aus dem Polnischen von Marlena BREUER)

Jurij IZDRYK 112
Levels of Lviv, Essay-Auszug (Aus dem Ukrainischen von Constanze AKA)

Goran VOJNOVIĆ 114
Jugoslawien, mein Land, Romanauszug (Aus dem Slowenischen von Franziska MAZI)

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