Vladimir STOJSAVLJEVIĆ: Sommerliches Kriegstagebuch, Romanauszug (Aus dem Kroatischen von Evelyn STURL)

Erstveröffentlichung in: LICHTUNGEN 136/2013 (Graz), Dezember 2013, 28. Januar 2014
28. 1. 2014

Einleitung

Aus der Sicht eines Schuljungen, der nicht einzuordnen weiß, was um ihn herum passiert, wird in „Sommerliches Kriegstagebuch“ (Ljetni dnevnik rata) die Tristesse Zagrebs im Jahr 1991 beschrieben. Die kindliche Naivität, die sich dank des jungen Ich-Erzählers durch den Roman zieht, verleiht den wahren, grauenhaften Gegebenheiten des Jahres 1991 einen grotesken Ausdruck.  Der Tagebuchstil, den Vladimir Stojsavljević im Roman an den Tag legt, kommt dem Gefühl der damaligen Zeit sehr nahe, da – wie auch in einem Tagebuch – alles Zukünftige stets ungewiss ist. Es gelingt dem Autor, eindrucksvolle Bilder und bemerkenswerte Figuren zu zeichnen. Der 1992 erschienene Roman gilt als das erste Prosawerk, das sich mit dem Krieg in Kroatien beschäftigt.

ICH HABE FERNSEHVERBOT.

Das Verbot dauert erst ein paar Tage, aber mir kommt es so vor, als ob schon Monate vergangen wären. Genauer gesagt kann ich nur dann fernsehen, wenn Mutter in der Zeitung nachliest, was im Programm läuft und dann selbst den Fernseher einschaltet. Erst, wenn sie sich eine Szene aus einem Film oder einer Serie ansieht, ruft sie auch mich und dann komme ich in Großvaters Zimmer. Auf dem Tisch schwimmen Rosen in einer Glaskugel. Mama wechselt sie regelmäßig aus und Großvater wird böse, wenn sie es vergisst. Ich weiß nicht, warum er Rosen so mag. Und so flimmert der Fernseher und ich schaue gar nicht hin. Ich schaue den Holzesel auf dem Schrank an, in dessen dunklen Satteltaschen – das weiß ich – Großvater seine Cognacfläschchen versteckt hält. Ich habe keine Fernbedienung. Sie hat sie eingesteckt. Wir haben gemeinsam Filme geschaut, doch jetzt geht Mutter ins Nebenzimmer, um mit Vater etwas zu besprechen – leise, kurz, unverständlich. Opa stiehlt währenddessen Speck aus dem Kühlschrank in der Küche. Wir sind beide unglücklich. Er, weil es ihm verboten ist, Speck zu essen, und ich, weil ich den Fernsehsender nicht wechseln kann. Irgendwann sind sie zur Arbeit gegangen und ließen mich vor dem Bildschirm und ich konnte stundenlang mit der Fernbedienung die Welt regieren. Mehr als das geht im Übrigen nicht mehr. Ich verstehe nicht, warum. Als kleiner Junge lernte ich sprechen, indem ich von einem Gegenstand zum nächsten lief und immer wieder denselben Satz wiederholte: „Aber, aber, Mislav!“ Dieses dumme „Aber, aber“ ist in mein Leben zurückgekehrt.

Ich glaube, dass ich nicht ohne das Fernsehen leben könnte.

Alles, was mein Leben ausmacht, war zuvor auf dem Bildschirm. Ich habe mithilfe der Untertitel am Bildschirm lesen gelernt, und nachdem sie einen Farbfernseher gekauft hatten, begann ich auch zu träumen. Vielleicht habe ich auch schon davor geträumt, aber ich fing an, mir wegen der Farben am Bildschirm die Träume zu merken. Ich liebe es, wenn es auf dem Bildschirm schneit, denn dabei sammeln sich irgendwann Scharen von Pünktchen im Bild, das dann zu leben beginnt. Es gab Tage – das gebe ich zu – wo mir das Angst machte. Dann habe ich mir selbst erklärt, warum das Bild erlischt. Die Menschen, die die Programme machen, gehen schlafen. So habe ich gelernt, dass die Weiße-Bildschirm-Zeit Schlafenszeit ist. Und wenn man sich hinlegt und die Augen schließt, kann man sich eigene Bilder machen. Am Anfang waren es stumme, zaghafte und unstete Bilder, aber mit der Zeit fingen sie an, zu sprechen. Die größten Auseinandersetzungen mit Vater wickelte ich im Traum auf dem Bildschirm  ab. Manchmal habe ich sie beim Frühstück fortgesetzt, was ihn verwirrte. Auch mich. Jetzt attackiere ich ihn nicht mehr. Irgendwie mag ich ihn sogar auch. Heute führt er heftige Kriege mit seinem Vater. Mich lässt er in Frieden wegen der Krankheit. Ja, ich habe vergessen zu sagen, wie krank ich bin. Asthma. „Mit der Pubertät wird es vorüber sein“, erklärte der Arzt meiner Mutter. Mich persönlich schränkt diese Krankheit nicht ein, aber die Eltern nützen sie für verschiedenste Beschränkungen. Wie jetzt das mit dem Fernsehen. Ich weiß nicht, wer am Fernsehverbot der Hauptschuldige ist, aber ich kümmere mich auch nicht darum, das herauszufinden. Es gibt eine wichtigere Sache.

Als Einzige trägt sie einen Kittel in dunkelblauer Farbe mit einem Kragen, den man offenbar auswechseln kann. Das eine Mal ist er ganz weiß und abgerundet, das andere Mal hellblau und spitz. Die gelockten Haare und die neugierige Nase, immer ein bisschen nach oben gestreckt, mildern die Strenge ihres Kleidchens. Sie wird nie laut, sie ist ruhig, ihr Blick trifft dich so, als würde sie vor nichts zurückweichen.

Sie legte mir verschiedene Geschenke unter die Bank. Bonbons, einen Schokoriegel, eine halbe Birne, einen Buntstift. Ich brauchte Tage, bis ich begriff, wer das macht. Sie ging in den Vormittagsunterricht, während ich den am Nachmittag besuchte. Jetzt sind wir im selben. Das Mädchen vom Haus gegenüber. Die, die eine Hexe gesehen hat. Jasna. Jasna, die nie ans Meer fährt.

Dieses Jahr werden auch wir nicht ans Meer fahren. Darüber bin ich glücklich, denn ich hasse Brote mit Tomaten. Ich kann mich auch nicht für das Salzwasser begeistern. Und dann gibt es diese dumme Situation, wo du andere Kinder kennen lernen musst, weil sich die Erwachsenen beim Schach- und Kartenspielen amüsieren. Damit die Kinder beschäftigt sind, zwingen sie uns zu gemeinsamen, langweiligen Spielen. Das alles wird es diesen Sommer nicht geben. Ich hörte auch, wie Opa davon redete, dass er nicht aufs Dorf fahren wird und er die Straße nicht passieren kann. Es ist gefährlich. Ich fragte ihn, warum es gefährlich sei, und er ging brummend aus der Wohnung. Prinzipiell verschweigen mir alle im Haus etwas. Sie sollen sich ruhig anstrengen. Es wird mühsam, weil ich einen Idioten spielen muss, der nicht begreift, worüber die Erwachsenen in ihren verschlüsselten Botschaften sprechen. Alle in der Familie hegen zur Zeit das eine oder andere Geheimnis. Und jemand, der ein Geheimnis hat, redet wenig. Das Geheimnis fällt aber trotzdem wie ein Bissen aus dem Mund, so wie auch ein Marmeladebrot immer auf die bestrichene Seite fällt.

Großvaters Geheimnisse sind in der großen Truhe eingeschlossen, auf welcher der Fernseher steht. Oft verändert Vater in unserem Haus die Einrichtung und deren Anordnung, aber diese Truhe ist der einzige Gegenstand, den man nie auswechseln wird. Manchmal sperrt er sie auf. Der Deckel knarrt, Großvater hebt ihn vorsichtig an und nimmt eine alte Fotografie heraus. Sie versetzt ihn so sehr in eine andere Zeit, dass er nicht bemerkt, wie ich hinter ihm stehe. In der Truhe waren ein Gürtel, eine Troroga, eine Tasche mit einer völlig ausgebleichten Karte und einige Bücher mit unansehnlichen, sandgrauen Umschlägen. In der Mitte der Truhe steht eine Schuhschachtel, gefüllt mit Fotos, mit einem Aufkleber, dessen kaum mehr sichtbare Aufschrift den Namen einer Firma zeigt. Das Foto, das Opa betrachtet, ist eine Fotografie von Großmutter. Als Zierde hat es einen Zackenrand. Großmutter steht in weißen Wollstrümpfen, Stiefeln und einer Uniform bei einem Stuhl in einem Fotostudio und schmunzelt. Die junge Frau ist wie die Schauspielerinnen in den Filmillustrierten beleuchtet und trägt einen sehr langen geflochtenen Zopf. Sie lacht so schön, dass durch ihr Lächeln alles angenehm und gegenwärtig wirkt. Großmutter habe ich nie gesehen, aber ich weiß immerhin, wie sie lacht. Und ich kann dieses Lachen hören, wenn ich in die Sonne schaue, um schneller zu niesen. Opa jedoch seufzt bei diesem Lachen, er leidet, wartet, dass er zu weinen beginnt, aber es gelingt ihm nicht und dann schüttelt er sich wie nach einem Regen ab, verschließt die Fotografie und dieses zauberhafte Lächeln wieder in der Truhe. Die Truhe: Der einzige Gegenstand, der noch nach den Erinnerungen an das Dorf riecht, aus dem er gekommen ist. Ich würde gerne mit ihm plaudern, ihn fragen, woran er sich erinnert hat, wo die Fotografie aufgenommen wurde und ob sie eine Widmung hat. Ich weiß, dass ich ihn allein lassen muss. Ich flüchte. Ich flüchte ans Fenster, durch welches die Bienen gemeinsam mit dem Duft der überreifen Kirschen eindringen, die wir diesen Frühling nicht gepflückt haben. An den Kirschbäumen nähren sich die Amseln, wie auch meine Angst. Ich fürchte mich davor, dass Opa an Kummer stirbt und so sein Geheimnis für sich behält.

Meine Mutter arbeitet im Kindergarten. Oft bringt sie Essen in kleinen Behältern mit, deren Ohrenhenkelchen mit einem violetten Bügel verbunden sind. Die Behälter sind hellleuchtend und grün und der Inhalt ist ebenso hell und bleich. Das Essen schmeckt nicht, der Salat ist immer welk und die Kuchen sind wirklich fürchterlich. Zum Glück haben wir dieses Mittagessen nicht wirklich oft, sondern nur, wenn sie bis in den späten Nachmittag Bereitschaftsdienst hat. Meine Mama kann nicht kochen. Alles kocht ihr über, sie kann nicht richtig salzen, das Fleisch brennt ihr an. Die Küche ist überhaupt der aufregendste Ort in unserer Wohnung. Dort werden auch pädagogische Maßnahmen durchgeführt. Nein, nein, es verprügelt mich nie jemand. Aber in diesem blöden Raum stopfen sie Fischölkapseln in mich hinein. In diesen grässlichen Küchenschränken wartet die Medizin auf mich, die ich wegen der Allergie, und damit ich nicht ersticke, schlucken muss.

Einleitung und Übersetzung aus dem Kroatischen von Evelyn STURL, Novi Sad

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