Michal AJVAZ: Das Konzert, Kurzprosa (Aus dem Tschechischen von Kateřina RINGESOVÁ)

Erstveröffentlichung in: LICHTUNGEN 138/XXXV (Juni 2014, Graz), 12. August 2014
13. 8. 2014

(Kurzprosa)

Einleitung
Michal Ajvaz, seit 1994 ist er freier Schriftsteller und Publizist, debütierte 1989 mit dem Gedichtband Vražda v hotelu Intercontinental (Mord im Hotel Intercontinental), in dem bereits sein späteres Prosawerk anklingt. In seinen Geschichten webt Ajvaz eine mythische Welt, in der übernatürliche, mysteriöse und groteske Visionen in den Alltag einer Großstadt greifen, eine Welt, die an das magische Prag von Jakub Arbes und Gustav Meyrink erinnert. So z. B. in „Návrat starého varana“ (Die Rückkehr des alten Warans, 1991), Druhé město (Die andere Stadt, 1993), Zlatý věk (Goldenes Zeitalter, 2001), Cesta na jih (Die Reise in den Süden, 2008). „Das Konzert“ stammt aus dem Buch Návrat starého varana.

Ich spiele Klavier auf der Bühne der Sala terrena im Garten; ich weiß, dass von meiner Leistung meine ganze zukünftige Karriere abhängt, entweder werde ich mich als Klaviervirtuose durchsetzen und auf Konzertreisen durch die Metropolen der Welt gehen, oder ich kehre wieder in meine Höhle auf dem Rain zurück. Am Anfang bin ich konzentriert und ruhig, nur etwas stört mich ein wenig, denn die Tasten sind seltsam klebrig, als wären sie mit Honig begossen, oder eher noch, als wären sie aus Wachs, und ihre Oberfläche würde vor Wärme schmelzen. Die Tasten kleben mir mehr und mehr an den Fingern, das ist ziemlich unangenehm, vor allem wenn ich schnelle Passagen spiele, doch ich versuche, mich dadurch nicht aus dem Konzept bringen zu lassen, letztendlich habe ich schon manches bei Konzerten erlebt, ich erinnere mich, wie mir beim Spielen in einem Club eine Ratte über die Klaviatur lief, ihre kleinen Beine zupften falsche Akkorde, ein dummes Rattenliedchen, das sich in meine Sonate einmischte, die Ratte verfolgte meine über die Klaviatur flatternden Hände, und jedes Mal, wenn sie eine von ihnen eingeholt hatte, biss sie hinein. Dennoch spielte ich damals das Stück zu Ende, mit einer abgebissenen Kleinfingerspitze und blutigen Tasten. Ein andermal ist mir passiert, dass unter mein Klavier heimlich ein haariges Tier kroch, sich zusammenrollte und einschlief; und als ich in einer lyrischen Passage das Pedal drücken wollte, trat ich dem Tier auf den Kopf, es heulte verzweifelt auf, schoss unter dem Klavier auf die Bühne hervor und begann panisch hin- und herzujagen, jaulte und winselte dabei unaufhörlich. Auch damals spielte ich das Konzert zu Ende, obgleich das Stück bis zum letzten Ton vom Jammern des Tieres begleitet wurde. Klebrige Tasten sind jedoch unangenehmer als alle Tiere zusammen, das Schlimmste: Die Tasten kleben auch aneinander, das heißt, wenn ich eine anschlage, fallen gleichzeitig fünf oder sechs und eine diabolische Dissonanz ertönt. Beunruhigt spüre ich, dass die Tasten weicher und weicher werden und meine Finger immer tiefer eintauchen. Ja, jetzt passiert sogar schon, dass beim Anschlag mein Finger ganz in der Taste versinkt, ich kann ihn dann nicht schnell genug wieder befreien, und außerdem wird, wenn ich den Finger aus der aufgeweichten Taste herausziehe, ein unappetitliches, schlürfend-schmatzendes Geräusch laut (als zögen wir unseren Fuß aus dem Schlamm) und dieses leise Grunzen des Klaviers mischt sich in die Töne der Komposition. Aber auch die von den Klavierseiten angeschlagenen Töne sind nicht mehr klar, die scharfen Grenzen zwischen ihnen verschwimmen und sanfte Übergänge entstehen, ein Ton fließt träge hinüber in den anderen, geht dabei jedoch nicht in ihm auf, sondern klingt auf seinem Grund zusammen mit allen Tönen, die wiederum in ihn eingeflossen sind und die er in sich trägt, und so unterscheiden sich die einzelnen sich in dem amorphen Gedächtnis des Klaviers auflösenden Töne immer weniger voneinander, sie nähern sich der Verschmelzung zu einem einzigen Ton, einem einzigen Rauschen, in dem alle Töne enthalten sind. Zu alledem verdichtet sich der Nebel, im Weiß des Raumes zeichnen sich anfangs undeutlich nur die schwarzen Tasten ab, und nun sind auch sie schon verschwunden, ich spiele blind, meine Hände arbeiten sich mühsam durch die aufgeweichte Klaviatur wie Byrd durch den Schnee der Antarktis; wenn ich die Hände hebe, ziehen die zerschmelzenden Tasten Fäden wie Kaugummi, meine Finger sind ganz verklebt und ich wische sie immer wieder an meiner Hose ab, unter solchen Umständen zu spielen ist recht schwierig und es macht keinen Spaß;  außerdem weiß ich nicht, ob es sich überhaupt lohnt, denn aus dem Klavier erklingt sowieso nur noch ein einziger Ton, ein einziges Rauschen, das alle Töne in sich schließt, ich spiele weiter und denke daran, dass in diesem Rauschen, das aus dem Klavier dringt, alle Kompositionen enthalten sind, die, die schon geschrieben sind,  und auch die, die noch geschrieben werden, ja, sogar die nie verfassten Stücke genialer Komponisten, jung verstorbenen, ich lausche dem monotonen Rauschen und fühle, wie es langsam anfängt, mir zu gefallen, mir scheint zuweilen, dass sich darin wunderschöne Kompositionen verbergen, schöner als alles, was ich je gehört habe, ich spüre, wie Unruhe und Ekel sich zu freudiger Ekstase verwandeln, dies ist mein bestes Konzert, denke ich mir, meine beste Leistung, sollen die Musikkritiker doch dazu sagen, was immer sie wollen, ich hebe meine Hände zum Schlussakkord, die Tasten triefen von meinen Fingern wie Nudelteig, und dann beuge ich mich, versenke die Hände triumphierend in die Klaviatur, ich tauche bis zu den Ellenbogen hinein, bis zu den Schultern, beim Rauschen der Sterne versinke ich trunken in den Sumpf des zerschmolzenen Klaviers.

Einleitung und Übersetzung aus dem Tschechischen von Kateřina RINGESOVÁ, Berlin

Michal AJVAZ: „Návrat starého varana“, Hynek, Praha 2000, S. 137-139.

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