Jaromir TYPLT: Gedichte (Aus dem Tschechischen von Martin MUTSCHLER)

Erstveröffentlichung in: LICHTUNGEN 139/XXXV (Oktober 2014, Graz), 23. November 2014
4. 12. 2014

Bruchstück B 101

 

Zwei Blasen hingeschmiert mit Kreide

wie ein Hauszeichen

auf dem Putz außen an der Tür:

hier wohnt Wahnsinn.

 

Lächelnd kommt er mir entgegen an dem Tag, als er verrückt wird.

Ein paar Schritte mehr und das Lächeln verschwindet,

nie sah ich einen Menschen so plötzlich erdunkeln,

das ganze Gesicht einstürzen, sich vergessen

und weiter starren, alles abgeben auf Gedeih und Verderb

und mit grauenhaft geweiteten Augen zusehen,

wie es anwächst,

wie es unaufhaltsam anwächst.

Erst dann ruft eine Stimme ihn

beim Namen heraus. Seit dem Tod seiner Mutter lebt František

allein im ganzen Haus.

 

Er führt mich den Flur entlang,

er wird mir beipflichten, was ich auch sage,

die lockeren Hosen rutschen ihm von den Hüften

hinab über die schwarze Scham,

die ich mit leichter Beunruhigung erspähe,

erahne,

bevor er sie wieder hochzieht.

 

Nicht sofort geht mir auf, wo ich eingetreten bin.

Verhalten normal, Antworten normal.

Vielleicht nur alles drumrum,

dass wir in sein Haus drangen

und es nach außen kehren, Dinge hinaustragen, in die Wände hacken, bohren,

uns an den Tisch setzen, Kaffee eingießen

und über Witze lachen. Zum Schein wird er allem zustimmen,

sehr bereitwillig,

zu bereitwillig,

aber in aufblitzender Erregung.

Er hat die Arznei nicht genommen. Angeblich vergessen.

 

Er kehrt zurück zu seiner Arbeit.

Mit enormer Konzentration, sorgsam, und doch zufällig

klebt er Schmirgelpapier auf ein Holztäfelchen.

Von der schlaffen Unterlippe wird ihm der Speichel rinnen,

immer wieder

tropft er herab,

langer weißer Speichel,

den er nicht einmal bemerkt

und der sich doch herauswälzt aus ihm.

 

alles muss gut durchdacht sein

 

lautet die Warnung,

sehr gut durchdacht sein, was man beginnt, damit es nicht sinnlos

beginnt! Wird er sagen und vor Augen

das Haus haben,

wenn auch etwas Anderes, etwas Allgemeines

 

Schmirgelpapier ist zum Schleifen da

 

wichtige Sache: Schmirgelpapier ist nun einmal zum Schleifen da,

das vergisst man leicht.

 

Doch gleich werde ich sehen, er unterschätzt mich nicht.

Er reißt ein Stück von dem Papier,

bestreut es dick mit Geschirrspülpulver,

tröpfelt Wasser darüber,

zerreibt es mit den Fingern dann zu einem Brei,

den wohl keiner außer uns beiden

je sich vorstellen könnte.

 

Grobe Körnigkeit

schäumt schmutzig.

 

Er mischt noch ein paar Spuckefäden bei,

Schluss mit den unnützen Hemmungen,

dabei ruft doch alles rundum nach Reinigung.

Und mit diesem scheußlichen grauen Brei beginnt er

die schmutzige Spüle zu scheuern, den Ofen, den Boden, die Becher,

eingetrocknete Flecken von Fett und Dreck,

vor nichts macht er Halt,

auch wird er bereits direkt auf den Boden spucken

und dabei Überlegungen kundtun, was Natürlichkeit ist

 

vor allem Natürlichkeit!

 

Eine Vorsehung,

was sonst,

nur hier noch ein bisschen durchputzen.

Denn vor allem und über alles hinweg

war es das Schmirgelpapier, das in die Weite das Weltall zerrieb,

und die Frage des Saubermachens

greift auch über auf das

durch und durch Saubere

            nimm es mal aus der Perspektive dieses Schmirgelpapiers!

 

er wird mich ermahnen,

mir bedeutungsvoll zuzwinkern

und kontrollieren, streng prüfen, ob

ich auch begreife, dass er mir das nicht nur zufällig sagt,

sondern mit besonderer Absicht, nur für mich,

in Hinblick darauf, was lebenswichtig ist,

damit ich weiß

 

aus der Perspektive dieses Schmirgelpapiers

            und des saubergemachten Tischs

            sollst du das sehen

            und plötzlich wird es dir klar

            du erkennst die Zukunft

            REALISIERE DAS!

 

Leider gelingt es mir nicht.

Das Gedächtnis fasst nur in Fetzen

und die zerfallen sowieso mit den Jahren

und verwirren

wie die Erinnerung an Weissagungen, einst hineingesprochen

in das donnernde Echo der Höhlen

 

denn man muss arbeiten

            diese Funktion des Schmirgelpapiers überdenken

            das erkennst du dann schon selbst

            man sagt nicht umsonst

            ERKENNE DICH SELBST!

 

Das wird er auf keinen Fall umsonst sagen.

 

In den Hörsälen, aus denen ich kam,

wo ich ein paar Jährchen versaß und verplauderte,

sagte man diesen Satz zuweilen her

in der Sprache des Originals, die so interessant klingt,

auch in Übersetzungen, die interessant klingen,

aber immer nur wie so ein Einfall, der

freilich auch hätte etwas bedeuten können, wenn es darauf ankommt,

während es hier ist,

als werde Staub, Rauch, Schimmel und Ekel durchblitzt

von Heraklit selbst

in letzter Konsequenz

von Ephesos her.

 

Ich verstehe:

gib acht, was geschieht, nimmst du dieses Papier in die Hand!

Ich verstehe:

die Körnigkeit des Schmirgels spiegelt die Körnigkeit der Welt und dich als Schmirgel in ihr.

Ich verstehe:

Abrutschen und Abreiben, Zusammensetzung, Aufscheuern und Flimmern, Zerbröseln und Staub.

Ich verstehe:

Auf der Hut sein!

Ich verstehe:

das entscheidende Detail, der einzelne Punkt unter Punkten,

der Umkehrpunkt.

 

František,

der Umkehrpunkt.

 

Er wird mich anschauen und Stroh aus der Matratze ziehen,

er spuckt auf den Boden, von dem sich Staubwolken erheben,

und beginnt ihn mit dem Stroh fieberhaft zu reinigen

 

Erkennen und Wissen sind zweierlei Dinge!

 

Was ich höre, werde ich nicht mehr glauben

 

            Erkennen und Wissen sind zweierlei Dinge

            und jetzt führe ich es dir vor

            eben

            dieses

 

            Erkennen!

 

Er befeuchtet die Finger im Topf und dann, mit Schwung,

beginnt er Wasser auf den Boden zu sprengen

wie einer, der dem Staub befiehlt, sich zu legen und nicht zu ersticken.

Und der Staub legt sich, hört auf mich zu ersticken.

Denn darum geht es hier.

Um mich,

um meine Rettung,

schließlich wird mir bereits jedes Einatmen wehtun.

 

Und ihm entgeht das nicht,

Erkennen ist Freundschaft.

 

Er selbst sagt es mit diesen Worten

 

Erkennen ist Freundschaft

 

Dann werde ich ihn schon hinausführen,

fort aus diesem Haus, wo eine Meute Blaumänner

weitertoben wird, in die Wände hacken und Staub aufwirbeln,

das sollte er nicht mit ansehen,

ich werde mit ihm durch die Landschaft gehen im scharfen Frühlingslicht,

Flimmern ringsum, kahle Schatten von Stämmen,

Steinchen, auf den Weg geschwemmt, hemmend jeden Moment,

eine frische, edle,

noch ungeglättete Welt.

 

Derweil bin ich noch mit ihm,

fast,

aber dieses fast entscheidet.

 

Vergeblich wird er irgendetwas erklären,

Wörter sind ohnehin aus Zischlauten,

er zeigt über den Zaun auf einen Sandhaufen, er knirscht mit den Sohlen,

ich sauge scharf Luft ein und er

pflichtet gleich bei, ganz begeistert, dass ich endlich draufgekommen bin,

ist schließlich eine grundlegende Sache,

Atem und Staub, Scheuern und Flimmern,

Freundschaft und Scharfsinn.

 

Aber dieses knirschende

fast.

 

Noch in der Keramikwerkstatt

beim Warten auf den Psychiater

wird er sich Verbesserungsvorschläge ausdenken,

wie man Schleifpapier mit Farbe in den Lehm hobeln könnte

und daraus modellieren, die Produktion in Gang setzen

 

ich hab ja gewusst, was euch hier gefehlt hat!

 

und mit dieser Wahrheit, die alles ändert,

die alle bestehenden Erfahrungen überwindet,

führe ich František schließlich zur Aufnahme.

 

Auch damit noch lasse ich mich betrauen.

 

Erkennen und Freundschaft.

Durch und durch

oder fast.

 Übersetzung aus dem Tschechischen: Martin MUTSCHLER, Hamburg

 

Die Deckel

             (und als Bodhidharma entdeckte,

            dass sich die Lider ihm von selbst verklebten)

 

Der zweite. Ich starre wie er stürzt

abprallt

und splittert, noch glaub ich es nicht

eine Weile noch scheint mir, es sei rückgängig zu machen

schon der zweite Deckel in fünf Tagen

 

es ist ausgebrochen

schon in der zweiten Teekanne ein Loch                   das

ich mit nichts schließen kann             das

nach mir zielt                          das

 

Und am Boden die Scherben

 

Die Botschaft muss geschrieben werden mit deutlicher Schrift

vielleicht auch nachgezeichnet

 

Ich tue nicht so als verstünde ich nicht

 

Kommewaswolle chinesisch oder japanisch

hart so

dass es schwerlich könnte überzeugender sein

Und selbst wenn es die fehlerhafte Bewegung nicht gäbe

es komme selbst

 

Ich tue so als verstünde ich

ich hab es erreicht wie eine Wasserleitung

Ausgerissene Seiten

Die morgige Verabredung, kein Grund daran zu denken

 

Ich habe nur gegriffen, mich verlassen

dass beim grünen Tee wie schon so oft

mit der Verlagerung des zweiten                     noch des dritten Aufgusses

Verstehe ich dass ich nur so tue?

 

Schon hat es sich gelegt, das Wasser ist heiß

und wo nicht Unhaltbarkeit, da also ungreifbar

Es verfließen ein paar der kommenden Stunden

Ich denke, es dunkelt, es bleibt kein Licht

Den Abend kann man wohl erwarten

 

Das Klimpern eingerollter Blättchen

zartes Anklingen

das Knacken von Keramik, des zweiten Deckels schon

 

Erst am Gaumen verfließt es mir

 

Ein Stimmen. Komme

was Tee

 

 Übersetzung aus dem Tschechischen: Martin MUTSCHLER, Hamburg

 

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