Jurij IZDRYK: Lwiw: Sequenzen einer Psychose, Essay-Auszug (Aus dem Ukrainischen von Stefan HECK)

Erstveröffentlichung in: LICHTUNGEN 138/XXXV (Juni 2014, Graz), 12. August 2014
13. 8. 2014

(Essay-Auszug)

Nach Lwiw kam ich zum ersten Mal, als ich meine Frau besuchte, die erste (meine erste und letzte Frau, wenn ich ehrlich sein soll), sie bewohnte eine winzige Kammer in einer verkommenen Mansarde; die lag zwar in Zentrumsnähe, jedoch in einem jener Viertel, die ein für alle Mal nach Stadtrand aussehen (solche Orte gab es nur in Lwiw – dicht gewachsene Ahorne und Pappeln, in denen scharenweise schwarze Krähen nisteten; beinah eine Waldlandschaft, in der man sich leicht verirrte; alte heruntergekommene Gebäude, die jedoch von mächtigen schmiedeeisernen Zäunen umgeben waren; an jedem der Häuser sah man noch Reste von Flachreliefs und Chimären, jedes hatte besondere Anbauten, kleine Türmchen mit Flaggen und Wetterhähnen, und ein jedes bewahrte auf seiner Fassade noch etwas von seinem früheren Eigentümer, und sei es nur eine rostige Uhr), vergessene Viertel, in denen nur das Klingeln unsichtbarer Straßenbahnen verriet, dass die Stadtmitte nicht weit war.

[…]

Das Erste, wonach mich meine ehemalige-erste-und-letzte Frau (im Weiteren: MEF) fragte, war, wo ich denn übernachten wollte.

Das Zimmer war wirklich derart winzig, dass dort gerade mal eine Klosterpritsche, ein Kleiderschrank und ein Klavierschemel Platz fanden.

Das ist kein Problem, antwortete ich vom Flur aus, ich hab in den letzten Jahren oft irgendwo auf dem Boden geschlafen, ich bin das gewohnt, weißt du doch. Und überhaupt, lass uns nach Hause fahren, dachte ich, sagte es aber nicht, denn ich hatte ja gar kein Zuhause.

MEF schwieg darauf, und ihr Nachbar, ein Student, der durch die dünne Trennwand unser Gespräch mitgehört hatte und gerade seine Taschen auf den Flur trug, weil er über das Wochenende nach Hause fuhr, bot mir gleich sein Zimmer an und zog mich zu sich hinein.

Seine Kammer unterschied sich kaum von der MEF, nur stand hier an Stelle des Schemels ein leerer Bierkasten.

[…]

Ich ging zurück um MEF zu informieren, dass das Übernachtungsproblem gelöst war, und sah mit Erstaunen gegenüber von ihrem Bett noch einmal genau so eines stehen. Das vielleicht für mich war.

Ich wollte die Situation nicht noch komplizierter machen und nach der Natur dieser zweifelsohne übernatürlichen Erscheinung fragen, im weiteren Handlungsverlauf klaffte nämlich eine unfüllbare Lücke, die vielleicht in ihrem Wesen genauso übernatürlich war wie das zweite Bett im Zimmer (dessen Maße derartige Tricks doch a priori unmöglich machten).

Derweil ist das Phänomen der Lücke in psychotischen Sequenzen an und für sich nichts Neues:

Einmal wollte ich nach einer wilden Party in Stanislaw zurück nach Lwiw und kaufte mir wie gewohnt für die Fahrt noch was zu trinken. Die Party hatte in der Wohnung eines guten Freundes stattgefunden, ganz oben im neunten Stock. Ich wusste, dass dieser Freund und auch meine übrigen Bekannten meine feuchtfröhlichen Eskapaden schon reichlich satt hatten, aber damals luden sie mich immer noch zu Banketten, Geburtstagsfeiern, Präsentationen und Nationalfeiertagen ein. Aber darum geht es hier gar nicht. Ich hatte also für die Fahrt etwas zu trinken gekauft und fuhr los. Zumindest bildete ich mir das ein. Und dann… Dann tauchte plötzlich eine dieser Lücken auf, deren Unergründlichkeit ich bereits erwähnt habe.

(Vielleicht ist die Kontinuität des Seins einfach hie und da beschädigt. Vielleicht ist Gott es ab und zu einfach leid, Milliarden Biographien in einer nicht enden wollenden Abfolge fortzuspinnen, und wenn er nur für einen Moment den Blick von etwas abwendet, oder wenn das Auge Gottes blinzelt, dann taucht im Lebenslauf einer konkreten Person oder auch ganzer Völker ein Bruch auf, ein Loch, das sich nicht flicken lässt: Dafür ist in der Substanz des Seins kein Baustoff vorgesehen.)

Ich habe also noch was zu trinken gekauft und fahre los, ich steige in den Zug, schließe entspannt die Augen, und als ich sie wieder öffne… sitze ich im Treppenhaus eines Neungeschossers, Tasche weg, Geld weg, Kleidung blutverschmiert und Schädel eingeschlagen. „Hast du ’s mal wieder übertrieben, Scheißsäufer“, denke ich. Völlig klar, ich bin gar nicht erst losgefahren, sondern hab im Suff irgendne Scheiße gebaut. Und jetzt sitz ich hier in diesem Plattenbau in Stanislaw, ganz oben, draußen im Treppenhaus, weil ich wahrscheinlich nicht reindurfte. Na gut. Und was jetzt? Als allererstes brauche ich was zu trinken, um wieder klar im Kopf zu werden. Aber wo krieg ich das her, ohne Geld? Zu meinem Kumpel geh ich nicht. Erstens habe ich noch einen letzten Rest Anstand, zweitens ist es noch früh, sieht nach fünf Uhr morgens aus. Aber es muss doch irgendeine Lösung geben! Da fällt mir ein, dass mein Kumpel, ein kleiner Geschäftsmann, in der Gegend eine ganze Kette von 24-Stunden-Kiosken hat, die auch Horilka verkaufen. Ich könnte unter den Verkäufern einen Bekannten suchen oder mich einfach auf die Autorität des Chefs berufen und anschreiben lassen, und so meinen Kater kurieren. Ich halte mich gequält am Geländer fest, gehe nach unten und verlasse das Haus. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, aber der Himmel wird schon grau, wie die Klassiker schreiben: „Es tagt.“ Nach langer sinnloser Suche mache ich einen Kiosk mit Schreibwaren ausfindig – natürlich geschlossen. Von einer Trinkhalle keine Spur. Na dann, bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als Scham und Stolz über Bord zu werfen, zu meinem Kumpel zurückzukehren und zu betteln… Zum letzten Mal!… Mann, ich versprech’s dir, ist das letzte Mal!… Ich geh also zurück, lauf so in Schlangenlinien zwischen den Plattenbauten durch, auf das Gebäude zu, und begreife mit Entsetzen, dass das der falsche Ort ist! Gestern ist mir doch noch aufgefallen, dass vor dem Haus die ganze Straße aufgerissen war – eine Wasserleitung wurde repariert. Von einer Baustelle ist hier keine Spur! Die Straße ist ganz! Nein, ukrainische Bauarbeiter können das nicht alles über Nacht repariert und auch noch asphaltiert haben, ausgeschlossen! So etwas gibt es nicht einmal im allerschlimmsten Rausch.

Mir dämmert, dass ich mich verirrt habe.

Das ist echt die falsche Straße.

Ich such die richtige.

Die ist einfach weg.

Niemand, den man fragen könnte.

Zu früh am Morgen.

Aussichtslos.

Schrecklich.

Nach langem hilflosem Umherirren bemerke ich endlich an einer Kreuzung eine kleine Frau. Sie weicht verängstigt aus und will weglaufen. Doch ich mache ihr mit allen nur erdenklichen Gesten der internationalen Pazifistensprache klar, dass ich mich einfach nur verlaufen habe und die-und-die Straße suche. Die Frau wird noch ängstlicher, sagt, so eine Straße kennt sie nicht, hat sie noch nie gehört, gibt es hier überhaupt nicht. Und schon ist sie weg.

Ich bleibe auf der Kreuzung stehen wie der letzte Depp und plötzlich sehe ich… hinten am Horizont… über dem Saum des Morgennebels… die knochige Säule des Lwiwer Fernsehturms…

Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich bis nach Hause gebraucht habe. Ich weiß nicht, wie viele Kilometer ich zurückgelegt habe. Und ich habe keine Ahnung, wie es mich vom Bahnhof, an dem ich ja angekommen sein muss, in dieses Viertel hier verschlagen hat. Ich will nicht mal wissen, welcher Bezirk das eigentlich ist – Zamarstyniw, Klepariw… – diese ganzen Ortsnamen, die die Profinostalgiker der Stadt zu einer feinen poetischen Träne rühren, haben mir noch nie etwas bedeutet. Aber seit damals liebe ich Lwiw mit der stumpfen Leidenschaft eines hirnlosen Masochisten.

[…]

Aus dem Ukrainischen von Stefan HECK, Tübingen

 

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