Jurij IZDRYK: Levels of Lviv, Essay-Auszug (Aus dem Ukrainischen von Constanze AKA)

Erstveröffentlichung in: LICHTUNGEN 136/2013 (Graz), Dezember 2013, 28. Januar 2014
28. 1. 2014

Einleitung

Jurij Izdryk ist Dichter und Schriftsteller, Maler und Journalist, Musiker und Übersetzer, Performer und Blogger. 1962 in der ukrainischen Kleinstadt Kalusch geboren, eroberte er in den neunziger Jahren die ukrainische Literaturszene, wurde Teil des Stanislawer Literaturphänomens und gehört heute zu den bedeutendsten ukrainischen Autoren, die sich dem Stil der Postmoderne verschrieben haben. Izdryk liebt das Unerwartete, er wirft einen besonderen, mitunter verfremdeten Blick auf die Welt. Izdryk schreibt nicht nur, er komponiert Zeichen und Töne, Bedeutung und Klang. Das Spiel mit der Sprache geschieht dabei nicht allein auf dem Papier. In den virtuellen Weiten des Internets führt er ein Totes Tagebuch, sein neuestes Werk Izdryk J. entstand auf diesem Blog. Und mit Dichter Hryhorij Sementschuk experimentiert er in der Welt der Klänge, zusammen bilden sie das musikalisch-poetische Projekt „DrumТИатр“. LICHTUNGEN veröffentlicht in Zusammenarbeit mit TransStar Europa in diesem Jahr erstmals deutschsprachige Übersetzungen von Izdryks Essays. „Levels of Lviv“ erschien 2009 im Essayband Der 2-Gigabyte-Stick und ist ein Paradebeispiel für den ganz eigenen Blick, den Izdryk auch auf die Städte seiner Heimat zu werfen vermag. Denn wer außer ihm wagt es schon, Lwiw – eine stolze Stadt mit bedeutendem architektonischen Erbe – zuerst einmal als Trümmerlandschaft vorzustellen?

Als ich 2003 nach einer mehrjährigen Pause nach Lwiw kam, war die Stadt nicht wiederzuerkennen. Es gab eigentlich gar keine Stadt mehr. Das infernale Virus, ein Bote der Apokalypse, vor der Hollywood-Skripts über endzeitliche Epidemien immer wieder warnen, war tatsächlich auf die Zivilisation niedergegangen. Es befiel jedoch keine Menschen (wie es die meisten Skripts beschrieben), sondern tote Materie. Selbst ohne physikalisches oder chemisches Detailwissen war offensichtlich, dass das Virus die zementierenden Komponenten des Zements und die Strukturbausteine der meisten Ziegelarten zersetzt hatte.

[…]

Die Ruinen der Stadt, die Trümmerhaufen und der postkatastrophale Müll bildeten eine unwirkliche, einigermaßen gleichmäßige, wenn auch hügelige Landschaft, sie sogen das Wasser auf und zerfielen, verflüssigten und zersetzten sich, brodelten und schäumten, kochten und warfen Gasblasen, die sich bei Luftkontakt entzündeten. Wie kosmisches essigsaures Gras züngelten alsbald blaue Flämmchen über den Boden, sie hatten ihn im Nu großflächig überzogen. Aus diesem schaumigen Gebräu krochen nach und nach Tentakel der allerklebrigsten Sorte hervor: Sie waren feucht wie Ton oder harzig wie Flüssiggummi und verschlangen alles. Diese Gummimasse blieb nicht lange flüssig, sondern versteinerte bald, sie zementierte auf der Stelle jeden ein, der mehr als knöcheltief in den zähen Brei eingesunken war. Die Öffnungen, aus denen heraus sich die blauen Feuerzünglein ihren Weg bahnten, verkohlten an den Rändern und bekamen Risse, das Feuer gewann an Kraft, wurde dichter und brach durch jeden Spalt und jede Ritze.

Eine Panik brach nicht aus. Nur Katastrophen, die kinematographischen Standards entsprechen, können eine Panik auslösen. Hier aber geschah zugleich etwas Wunderschönes und Mörderisches. Der Tod überraschte die meisten so plötzlich, dass es gar nicht erst zu massenhaftem Klagen und Schreien kam. Das Unheil verbreitete sich schnell und unvorhersehbar, die wenigen Überlebenden verdankten ihre Rettung eher dem mathematischen Zufall als der eigenen Geschicklichkeit oder dem Selbsterhaltungstrieb. Ich schwang mich auf die metallenen Arme von Taras Grygorowytsch Schewtschenko, nicht, weil ich Rettung suchte, sondern weil ich mich nach einer starken, väterlichen Umarmung sehnte, selbst wenn sie nur von einem Denkmal kam. Ich saß auf den Schultern des Dichters und verfolgte vollkommen unbewegt die Lwiwer Apokalypse. Mehr noch: Genauso unbewegt stieß ich mit meinen Füßen die anderen Anwärter auf Taras‘ Schultern weg. Nicht, dass ich mich im Überlebenskampf besonders angestrengt oder nebenbei im Kopf mögliche Rettungsvarianten durchgespielt hätte. Vor dem Hintergrund des planetaren Infernos – die Größe eines Planeten hängt von der Sichtweite des Einzelnen ab und weil ich intuitiv höher geklettert war als alle anderen, konnte ich auch weiter sehen, mir erschien der Planet größer und ich hatte einen  besseren Überblick über die denkbaren Rettungsszenarien. Also, vor dem Hintergrund dieses planetaren Infernos verloren moralische Bedenken ihren Imperativ, so schnell wie ein Spinnengewebe aus dem Vorjahr in der Sonne aufflammt und verbrennt.

An einem Ende des Prospekt Swobody, dort, wo früher die Oper gestanden hatte, wurden die Flammen röter, breiteten sich aus und hoben sich als heller Schein vom blau leuchtenden Hintergrund ab. Das Holzgerüst des Theaters brannte. Erst durch die Epidemie erfuhren wir überhaupt von dem Gerüst: die Steinmauern waren zu Staub zerfallen und hatten ein architektonisches Skelett entblößt, aus Holz gezimmert und mit Salzen aus Solotwyno imprägniert. Das salzgetränkte Holz mit seiner Resonanzfähigkeit war also der Grund für die ziemlich gute Akustik der Oper gewesen. Wahrscheinlich bewirkte das Salz auch, dass über dem Theater kein schwarzer, sondern weißer Rauch aufstieg, als hätte man im Epizentrum des Feuers gerade den neuen postapokalyptischen Papst gewählt.

Plötzlich meinte ich in den Nebelschwaden eine unnatürliche Simultanität der Luftströme zu erkennen. Ich war beinahe überzeugt davon, dass diese kleine optische Täuschung eine Folge des durchlebten Schocks war, und doch zwang mich mein Misstrauen – vorerst klein und schwach –, über mein weiteres Vorgehen nachzudenken. Außerdem wurden unter mir Taras‘ Schultern immer heißer. Lange konnte ich hier nicht mehr herumsitzen. Ich trat auf dem Dichterkopf kurz von einem Fuß auf den anderen, stieß mich dann ab und sprang plump in die Richtung, in der man in den Flammen die glühende Bronzestele Schoß der Ukraine vermuten konnte. Der Sprung, obwohl scheinbarer Selbstmord, stellte sich als rettend heraus: Eine von der Glut gleichmäßig aufgeheizte Luftwelle trug ein Stück Werbebanner heran, das ich im Fall von der verbogenen Säule einfing und von dem ich mich wie ein professioneller Fallschirmspringer tragen ließ. Als sich die Auftriebskraft der Wärme erschöpfte, sah ich, dass die noch glühende Kruste ihre Substanz wiederum veränderte und sich in eine Schlammflut verwandelte. In deren Strömung bemerkte ich, genau wie in den Rauchschwaden über der Oper, eine verdächtige Simultanität, die mich in meinen Rettungsplänen nur bestärkte. Ebenso rätselhaft war das Verhalten der Stadtvögel: Krähen, Kolkraben und Tauben ließen sich wie Möwen vom Strom tragen und einfach in die brennende Höhle des Operngerüsts treiben. Anstatt weiter ins Epizentrum des Feuers zu fließen, verwandelte sich der Strom plötzlich in einen Strudel und bildete einen ziemlich stabilen Trichter mit einer alles absorbierenden Öffnung. Der Intuition der Vögel vertrauend landete ich gekonnt auf dem Kamm der nächsten Schlammlawine und ließ die Gesetze der Hydrodynamik für kurze Zeit zum entscheidenden Faktor meiner Existenz werden. Mit dem, was wir in der Schule an Gesetzen gelernt hatten, war das natürlich nicht annähernd zu vergleichen. Darauf wiesen nicht nur das Strömungsverhalten und der Charakter der Wellenbildung hin, sondern auch die offensichtliche Pixelung des erkennbaren Mikrokosmos. Als es mich in den Strudeltrichter zog, hätte ich schwören können, dass ich mich auch aus Pixeln zusammensetzte, wobei ich nicht besonders gewissenhaft digitalisiert worden war. Um einiges wirklichkeitsgetreuer und realistischer war die Darstellung der Tschajka, eines Kosaken-Segelbootes, das an einem seichten Ankerplatz an den Ufern eines unterirdischen Arms der Poltwa festgemacht war. Die Schlammflut verwandelte sich fast gänzlich in dunkles, undurchsichtiges Wasser, wobei man die trüben, miteinander vermengten Wasserläufe selbst mit einer der ersten Photoshop-Versionen hätte generieren können. Als ich also ohne besondere Anstrengung einige Meter weiter geflogen war (nun schon ohne die Hilfe äußerer, übernatürlicher Kräfte) und geschickt auf dem Deck der Tschajka landete, wunderte ich mich kein bisschen, als in einem peripheren Ausschnitt meines Sichtfeldes ein neonfarbiger Slogan aufleuchtete: „You’ve got bonus life“. Genauso wenig wunderte ich mich, als am virtuellen Himmel glitzernde Nordlichter aufblitzten, die sich bald zu einer gänzlich lesbaren phosphoreszierenden Nachricht fügten: “Congratulations! You won. Now you can enter the next level! Your choice is a new game “’Levels of Lviv!’“.

P.S.: So hörte für mich das Jahr 2003 in Lwiw auf. 2004 kam ich schon auf meiner eigenen, ehrlich verdienten Tschajka zurück. Die war zwar kein Boot von kosakischer Herkunft, in ihrer paradoxen Erscheinung eines sozialistischen Luxuswagens aber dennoch von historischem Wert.

 Einleitung und Übersetzung aus dem Ukrainischen von Constanze AKA, Berlin

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