Damir KARAKAŠ: Das Haus, Romanauszug (Aus dem Kroatischen von Maja KONSTANINOVIĆ)

4. 12. 2014

Der vorliegende Text von Damir Karakaš ist aus dem 2012 erschienenen Erzählband Pukovnik Beethoven. Es handelt sich um den zweiten Teil der ersten Erzählung Das Haus, die eine unerwartete Wendung in Form von phantastischen Elementen nimmt und somit aus der üblichen Kriegsliteratur, auf die sich Karakaš keineswegs beschränkt, heraussticht. Karakaš gelingt es, mit seinem lockeren und doch tiefsinnigen Schreibstil, die Absurdität nicht nur des Krieges, sondern des Lebens überhaupt darzustellen.

Sie laufen weiter; nach einiger Zeit sehen sie ein Dorf.

Von weitem scheint es so verlassen wie diese Stadt, und Marijan wünscht sich, dass wenigstens irgendwo ein Hund bellt.

            Er schob seinen Helm mit dem Daumen ein Stück nach oben und schaute angestrengt Richtung Dorf: sein Blick ging von Haus zu Haus. Das Dorf war ein Puzzle aus alten, Holz- und neuen, hauptsächlich unfertigen Häusern: die neuen hatten Wände aus rotem Backstein.

            Oberst Beethoven sagte, sie sollten sich ein bis zwei Stunden ausruhen, dann sollten sie wieder aufbrechen.

            Joe und Marijan stiegen die knarzende Treppe hinauf in das Innere eines der Holzhäuser. Als sie mit gezogenen Waffen säuberlich alle Zimmer durchgesehen hatten, gingen sie zurück in die Küche und setzten sich müde auf die durchgesessene Couch.

            Der Wind blättert die Zeitung auf; er ist durch das Loch im Fenster gekommen und raschelte mit den Seiten. Marijan steht auf, nimmt die uralte Zeitung unter dem Tisch hervor, sein Blick bleibt beim Sportteil hängen, in dem mit fetten Buchstaben steht, dass ein Fußballer von einem kleineren zu einem größeren Verein gewechselt hat. Die Artikelüberschrift: Mein Trumpf ist der Kopf. Marijan lacht auf, er will es Joe zeigen: im letzten Moment lässt er es. Er blättert weiter in der Zeitung, bis er zu dem Teil mit den Kinos kommt.

            Joe stand in der Zeit mit nacktem Oberkörper hinter dem wackeligen Tischchen, in das ein blechernes Becken eingelassen war: er wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, zog sich an, fläzte sich auf die Couch und zog die Stiefel aus. Marijan schlief schon halb, hatte die Füße auf einen Stuhl abgelegt.

Joe steht schwungvoll von der Couch auf, öffnet den Kühlschrank: er ist leer – bis auf ein paar vertrocknete Früchte, zwei leere, trübe Flaschen und ein nicht ausgepacktes Päckchen Butter.

            Joe nimmt die Butter, betrachtet sie von allen Seiten: das Haltbarkeitsdatum ist noch nicht überschritten.

            Er schließt den Kühlschrank, holt einen Zwieback aus dem Rucksack und schmiert sich mit dem Bajonett eine Schicht Butter darauf.

            Während Joe mit dem scharfen Messer in die immer weicher werdende Butter eindrang, erinnerte sich Marijan, der ihn mit hochgezogener Augenbraue anschaute, an diesen ersten Tag, als er sich bei den Freiwilligen meldete. Er erinnerte sich an das Ausbildungslager und Oberst Beethoven, der sie damals, so könnte man sagen, in einem Schnellkurs in den Kriegsfertigkeiten schulte: er lehrte sie töten.

            Mit Messer, Draht, Fingern…

            Er sieht erneut die Butter an, dann Joe, seine kräftige Hand die den Griff des glänzenden Bajonetts hält.

            Oberst Beethoven fragte sie damals: „Wie ist es möglich, einen Menschen umzubringen, der gerade Wache hält, in der Nacht, wenn die Stille vollkommen ist, und zwar ohne das geringste Geräusch zu machen?“; ein paar übermotivierte Burschen traten hervor, erklärten: man muss dies, man muss das; der Oberst hörte ihnen ruhig und aufmerksam zu.

            Als sie fertig waren, stieß er hervor: Gkkkrrr.

            „Was sollen wir mit diesem Röcheln?“, fragte er.

            Er wartete noch einige Zeit, ob sie antworteten.

            Dann zog er aus der ledernen Hülle, die um die Hüfte geschnallt an der linken Seite hing, ein Bajonett, rief einen der Burschen; die Bewegungen des Oberst waren elastisch, bewusst eingesetzt: mit der Handfläche hielt er dem Burschen Mund und Nase zu; mit der anderen Hand näherte er die glänzende Spitze dem Hals; sein Daumen war die ganze Zeit entspannt hinter dem Griff des senkrechten Bajonetts.

            „Nur leicht drückt ihr mit dem Daumen zu, das Messer wird wie durch Butter schneiden und man wird kein Geräusch hören“, sagte er.

            Dann hört man einen Schrei.

            Marijan dachte im ersten Moment, er träume, und Joe sagte:

„What the fuck?“

            Dann hört man wieder einen längeren Schrei.

            Beide gingen wortlos zum Fenster, blieben mit den Nasen in Spinnweben hängen.

            Sie öffneten das Fenster und schauten gleichzeitig hinaus.

            Oberst Beethoven zeigte schon mit dem Finger in Richtung des kleineren Holzhauses auf dem nächsten Hügel. Dann befahl er mit ruhiger Stimme zwei Burschen, zum Haus hoch zu gehen. Die Burschen gingen mit den Waffen in der Hand los. Als sie leichten Schrittes, als würden sie die ganze Zeit schweben, am Haus ankamen, öffneten sie die quietschende Tür und gingen hinein – ein paar Minuten vergingen – sie kamen nicht heraus. Danach hörte man wieder einen Schrei aus dem Haus: dann mehrere Schreie. Es wirkte so, als kämen die Schreie aus weiter Ferne, viel weiter entfernt als dieses Haus. Marijan spitzte die Ohren, sich bemühend, dass ihm auch kein Geräusch entging; er fokussierte seinen Blick auf das Haus. Auch Joe fixierte das Haus. Dann wieder ein Schrei. Schreie. Sie vermehrzen sich, verstärkten die Stille bis zu dem Punkt, wo die Stille in Lautstärke umschlug, von der es Marijan immer schummeriger wurde. Joe nahm die Kalaschnikow, ging zum Fenster zurück: mal schaute er auf das Haus, mal auf die Waffe, als erwarte er eine Antwort von der Waffe. Marijan hatte in der Zeit erneut einen Blick auf das Haus gehabt. Jede neue Sekunde des Starrens und des steifen Blickes auf das Haus bestätigt ihm etwas, wovon ihm langsam die Knie zitterten.

            „Als wir kamen…“ bringt er gerade so hervor. „Ich glaube, dass dieses Haus gar nicht da war…“

            „Wie bitte?“, runzelt Joe die Augenbrauen.

            „Dieses Haus war vorhin nicht da“, sagte er.

            Joe sagte: „Du erzählst Schwachsinn.“

            „Dieses Haus war vorhin nicht da“, wiederholt Marijan noch leiser und schluckt seine zähe Spucke.

Oberst Beethoven geht langsam von unten auf das Haus auf dem Hügel zu, wie ein einziger Körper folgen ihm alle.

            Als sie sich dem Haus genügend genähert haben, schaut der Oberst über die Schulter, sein Blick schweift kurz über die Soldaten, er mustert Joe und noch drei andere: gibt ihnen ein Zeichen mit den Augen, sein Blick bleibt beim Haus stehen.

            Marijan packt Joe am Arm, er will ihm etwas sagen, weiß aber nicht, was, dann lässt er ihn langsam los. Joe packt die Kalaschnikow fester, lächelt und sagt: „Ja, ich lebe für solche Momente.“ Dann verdunkelt sich sein Gesicht schlagartig, er geht mit den anderen dreien entschlossen los Richtung Haus:

Schnell erklommen sie den Hügel, rannten im Zickzack die letzten paar Schritte, richteten die Waffen auf die Tür, fielen abrupt ein.

            Oberst Beethoven rief sie nach einiger Zeit: man hörte nichts.

            Wieder rief er. Nichts.

            Marijan wischte die schwitzigen Hände an der Hose ab; er war sich sicher, dass dieses Haus vorher nicht da war: er zitterte am ganzen Körper.

            Nach ein paar Minuten angespannter Stille, wieder Schreie: Als kämen sie nicht von dieser Welt.

Oberst Beethoven rief einige Soldaten mit Panzerfäusten; als sie sich hinknieten, zielten, die Körper anspannten, hob der Oberst langsam die Hand: aber er ließ sie nicht wieder herunter.

            Marijan wartete darauf, dass das Haus verschwand; es interessierte ihn überhaupt nicht, was in dem Haus war; er wartete nur darauf, dass das Haus verschwand, auf welche Weise auch immer: dass das Haus verschwand, dass das endlich passierte.

            Er kehrte den Blick vom Haus ab und schaute einige Momente auf Oberst Beethoven; er stand auch weiterhin reglos da, mit dieser erhobenen Hand, als habe man ihn in dieser Bewegung angehalten.

            Als Marijan seinen Blick wieder vom Haus abwendet, sieht er, wie dem Oberst auf der Stirn Schweißperlen glänzen, sie gleiten das Gesicht hinunter und fließen langsam in dieses Grübchen am Hals; Marijan kommt es da so vor – und er hat auch schon die Augen geschlossen – dass er die Welt um sich herum zum letzten Mal sieht.

 Übersetzung aus dem Kroatischen: Maja KONSTANTINOVIĆ, Tübingen

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TRANSSTAR-ÜBERSETZUNGEN V (LICHTUNGEN)

23. 11. 2014

Aus dem Inhaltsverzeichnis 

Claudia DATHE / Daniela KOCMUT: Einleitung

TransStar – Ein Projekt für Europas neue Kulturmittler

„TransStar“ ist ein junges europäisches Projekt, das ostmittel- und südosteuropäische Sprachen, ihre Literaturen und Kulturen in den Mittelpunkt von Diskussion, Austausch und Wahrnehmung rücken will und Studierenden und young professionals in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Polen, Tschechien, Kroatien, Slowenien und der Ukraine die Möglichkeit gibt, an diesem Prozess mitzuwirken und sich insbesondere in das literarische Übersetzen und in die Grundlagen des europäischen Kulturmanagements einzuarbeiten.

In den zunehmend transkulturell geprägten Lebenswelten sind nicht mehr nur Fachleute mit Spezialwissen gefragt, sondern die Kenntnis europäischer Kulturen wird für jeden Einzelnen zu einem alltäglichen Erfordernis. Um einen breiten Zugang zu den Kulturen zu ermöglichen, ist eine größere Anzahl von Kulturmittlern notwendig. Daher wurde dieses Projekt ins Leben gerufen, um die Integration der verschiedenen europäischen Kulturen zu fördern und jungen Sprach- und Kulturmittlern die Möglichkeit zu bieten, beim Zusammenwachsen der europäischen Nachbarn neue Impulse zu setzen.

Mit den Ausgaben 135/2013, 136/2013 der LICHTUNGEN stellen sich die jungen ÜbersetzerInnen mit Übersetzungen zeitgenössischer Literatur aus den fünf Ländern vor.

WerkstattleiterInnen des Projekts für Übersetzungen ins Deutsche: Alida BREMER (Münster), Claudia DATHE (Tübingen), Matthias JACOB (Tübingen), Kristina KALLERT (Regensburg), Daniela KOCMUT (Graz), Olaf KÜHL (Berlin)

Vielen Dank an die AutorInnen und Verlage für die freundliche Genehmigung des Abdrucks.


Übersetzungen in LICHTUNGEN 139/XXXV

Damir KARAKASC
Das Haus, Romanauszug (Aus dem Kroatischen von Maja KONSTANINOVIĆ )

Jaromir TYPLT
Gedichte (Aus dem Tschechischen von Martin MUTSCHLER)

Krzysztof VARGA
Gulasz z turula (Turulgulasch), Romanauszug (Aus dem Polnischen von Melanie FOIK)

Sylwia CHUTNIK
Dzidzia, Romanauszug (Aus dem Polnischen von Magda WLOSTOWSKA, Leipzig)

Stanka HRASTELJ
Spielen, Romanauszug (Aus dem Slowenischen von Tjaša ŠKET

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Die slowenische Übersetzung der Erzählung “Die Übergabe” (Silke Scheuermann)

15. 11. 2014

Radio Slowenien 1. Programm, 3. 11. 2014 um 19.00 Uhr

Radio Slowenien 3. Programm, 3. 11. 2014 um 23.05 Uhr

Silke Scheuermann: Die Übergabe / Predaja
Am 3. November 2014 wurde im Radio Slowenien im Rahmen der Sendung “Literarisches Notturno” die Übersetzung der Erzahlung “Die Übergabe” gelesen.
Alenka Lavrin (Teilnehmerin am Projekt TransStar Europa) hat die Erzählung der deutschen Autorin Silke Scheuermann als “Predaja” ins Slowenische übersetzt.

Zum Hören.

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Jani VIRK: Liebe in der Luft, Romanauszug (Aus dem Slowenischen von Anja WUTEJ)

13. 8. 2014

(Romanauszug)

Einleitung
„Liebe in der Luft“ (Ljubezen v zraku) ist ein verschmitzter Roman über einen geschiedenen Musikschullehrer, der allein mit seiner Tochter Ula lebt. Gefangen zwischen Lacan, Márquez, Santana und dem Traum, eine Reise nach Mexiko zu machen, versucht er die Liebe in der Luft einzufangen und gerät dabei an verschiedene Frauen, die er mehr oder weniger erfolgreich in sein Leben zu integrieren versucht. Der Roman war 2010 als bester Roman in Slowenien für den Kresnik-Preis nominiert.

 

1. Dezember

So ist es.

Draußen fällt in großen, prächtigen Flocken der Schnee, rundherum herrscht Stille einer tiefen Winternacht, die Landschaft gleitet in einem unerkennbaren gepunkteten Weiß auf schwarzem Hintergrund vorbei. Meine Augen sind geschlossen und ich zittere, ich weiß nicht, vor Kälte oder wegen des Geruchs der warmen, duftenden Haut über mir. Wegen meiner Unausgeschlafenheit oder wegen des harten, gleichmäßigen Ratterns der Räder auf den vereisten Schienen. Ich denke an nichts, das ruckartige Atmen der Frau stößt in meine Ohren und meinen Körper, ihre langen Haare kitzeln mich im Gesicht. Die Saiten beben willkürlich in der dichten, feuchten Luft, die zyklischen Stöße der nackten Frauenferse an den Gitarrenrumpf verwandeln sich im Zugabteil in schwankende unstimmige Töne. Zerrissene Tonfäden reisen über den weichen Teppich des Raumes, sickern durch schmutzige Sitzbezüge, abgeworfene Kleidungsstücke, eine halb leere Bierdose und landen auf der schweißbedeckten Oberfläche der weiblichen Haut. Ich höre, wie sie mit den Gegenständen verschmelzen, sich auf ihre Frequenz der verborgenen Stille einstimmen. Von der Fensterscheibe kriecht beißende Kälte in meine rechte Schulter, draußen ist es minus 10 Grad, würde ich den Schalter umstellen und die Heizung aufdrehen, wäre es nicht besser, es würde nur noch mehr nach rauchigem Erdöl stinken, in diesem abgewetzten Abteil des Zuges, der mit einer Handvoll Reisender am Abend von Wien nach Ljubljana fährt, wirklich  funktionieren, scheint mir, nur noch der Motor und das gelegentliche Tonsignal.

Durch mein zerstreutes, entrücktes Bewusstsein beschleicht mich träge der Gedanke, dass mir die Frau meine Gitarre zerstören wird, mit den Fingern greife ich ihr unter den Po und versuche ihren Fuß, der stoßartig zur Bank gegenüber zuckt, zu bändigen. Sieh mich an, flüstert sie unter dem ruckartigen Wiegen auf meinem Schoß, warum siehst du mich nicht an, röchelt sie mit ihrer Zunge in mein Ohr, dass sich sofort Feuchte und Kälte in ihm ansiedeln. Ich sehe sie nicht an, ich kann nicht mit Frauen schlafen, wenn ich die Augen geöffnet habe. Ich werde abgelenkt, ich verliere das Gefühl, selbst das wenige Licht, das ich nach innen spüre, kehrt sich nach außen und alles ist schnell vorbei. Mach ich, sage ich aus meinem aufgeweichten, verschwommenen Bewusstsein, schließ die Augen und ich schau dich an.

Ich schaue sie nicht an, ihr Gesicht interessiert mich nicht, ich kenne sie kaum. Meine Kollegen und ich hatten in Maribor in einer Filiale einer österreichischen Bank auf einer Weihnachtsfeier gespielt, sie übernachteten in einem billigen Hotel, ich aber wollte zurück, ich will nicht, dass meine kleine Ula morgens allein aufwacht und die Babysitterin fragt, wieso ich nicht zu Hause bin. Eine jüngere Frau wartete auch auf den Zug, am Bahnhof trat sie aus der Dunkelheit zu mir heran und stellte sich vor, ich verstand nicht recht, Maja, Kaja, Taja. Ihr habt gut gespielt, es hat Spaß gemacht, sagte sie. Ich fahre bis Celje, setzte sie ihren Monolog fort, ich könnte ja bei einer Freundin übernachten, aber mein Mann wartet auf mich, er ist eifersüchtig. Ich hatte sie schon bei der Feier bemerkt, mir gefiel, wie sie sich bewegte. Während der Pausen schlürften wir Bier, langsam & lässig, nur unser neuer Keyboarder streifte durch den Saal und holte sich Tanzpartnerinnen für die ruhigen, sentimentalen Evergreens, die aufgelegt wurden. Er ist noch jung, er braucht viel Wärme, ganz, ganz nah. Und wir, wie es sich für Männer um die vierzig gehört, saßen da und beobachteten die Mädels an den Tischen und auf der Tanzfläche. Nein, sie war meinem Gedächtnis nicht entfallen, Maja, Taja, Kaja.

Nach Celje? Schön, sagte ich träge in die kalte Luft des Bahnsteigs und versuchte ihre Augen unter dem blass-gelben Lichtstrahl zu finden, der in die verschneite Nacht einen Schauplatz für diese zufällige Begegnung aushöhlte.

Ich fahr bis Ljubljana, fuhr ich lässig fort und schätzte ein, wie weit ich ihr schmeicheln konnte. Logisch, dass er eifersüchtig ist, er ist ja wahrscheinlich nicht blind, fügte ich offenherzig hinzu, wenn du mir vertraust, pass ich auf dich auf. Und weil man nachts niemanden vertrauen sollte, natürlich auch auf mich selbst.

Sie nickte und schüttelte den Kopf, sah mich fragend an und lachte nach einiger Zeit. Es ist wirklich verdammt kalt, was? sagte sie, verdammt kalt, ja, entgegnete ich und trat näher an sie ran.

Mir gefällt die Stille der Nacht und das Liebesstöhnen der Frau über mir, ich mag die unverständlichen Ausbrüche abgehackter Silben, die animalische Spontanität der Gefühle und Leidenschaften, die in mein verbürgerlichtes und langweiliges menschliches Naturell stochern. Ich halte die Augen zu und versuche ein Stückchen meines Bewusstseins zu erhaschen, in dem ich mich erst richtig lebendig fühle, es weicht mir aus wie mir ihre Pobacken ausweichen, die ich versuche zu zügeln und in den Rhythmus meiner Jahre zu lenken. Ich habe es nicht eilig, ich schlafe selten mit Frauen, wenn das schon mal passiert, kann es ruhig etwas länger dauern.

 Einleitung und Übersetzung aus dem Slowenischen von Anja WUTEJ, Berlin

© Verlag Študentska založba, 2009

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Jurij IZDRYK: Lwiw: Sequenzen einer Psychose, Essay-Auszug (Aus dem Ukrainischen von Stefan HECK)

13. 8. 2014

(Essay-Auszug)

Nach Lwiw kam ich zum ersten Mal, als ich meine Frau besuchte, die erste (meine erste und letzte Frau, wenn ich ehrlich sein soll), sie bewohnte eine winzige Kammer in einer verkommenen Mansarde; die lag zwar in Zentrumsnähe, jedoch in einem jener Viertel, die ein für alle Mal nach Stadtrand aussehen (solche Orte gab es nur in Lwiw – dicht gewachsene Ahorne und Pappeln, in denen scharenweise schwarze Krähen nisteten; beinah eine Waldlandschaft, in der man sich leicht verirrte; alte heruntergekommene Gebäude, die jedoch von mächtigen schmiedeeisernen Zäunen umgeben waren; an jedem der Häuser sah man noch Reste von Flachreliefs und Chimären, jedes hatte besondere Anbauten, kleine Türmchen mit Flaggen und Wetterhähnen, und ein jedes bewahrte auf seiner Fassade noch etwas von seinem früheren Eigentümer, und sei es nur eine rostige Uhr), vergessene Viertel, in denen nur das Klingeln unsichtbarer Straßenbahnen verriet, dass die Stadtmitte nicht weit war.

[…]

Das Erste, wonach mich meine ehemalige-erste-und-letzte Frau (im Weiteren: MEF) fragte, war, wo ich denn übernachten wollte.

Das Zimmer war wirklich derart winzig, dass dort gerade mal eine Klosterpritsche, ein Kleiderschrank und ein Klavierschemel Platz fanden.

Das ist kein Problem, antwortete ich vom Flur aus, ich hab in den letzten Jahren oft irgendwo auf dem Boden geschlafen, ich bin das gewohnt, weißt du doch. Und überhaupt, lass uns nach Hause fahren, dachte ich, sagte es aber nicht, denn ich hatte ja gar kein Zuhause.

MEF schwieg darauf, und ihr Nachbar, ein Student, der durch die dünne Trennwand unser Gespräch mitgehört hatte und gerade seine Taschen auf den Flur trug, weil er über das Wochenende nach Hause fuhr, bot mir gleich sein Zimmer an und zog mich zu sich hinein.

Seine Kammer unterschied sich kaum von der MEF, nur stand hier an Stelle des Schemels ein leerer Bierkasten.

[…]

Ich ging zurück um MEF zu informieren, dass das Übernachtungsproblem gelöst war, und sah mit Erstaunen gegenüber von ihrem Bett noch einmal genau so eines stehen. Das vielleicht für mich war.

Ich wollte die Situation nicht noch komplizierter machen und nach der Natur dieser zweifelsohne übernatürlichen Erscheinung fragen, im weiteren Handlungsverlauf klaffte nämlich eine unfüllbare Lücke, die vielleicht in ihrem Wesen genauso übernatürlich war wie das zweite Bett im Zimmer (dessen Maße derartige Tricks doch a priori unmöglich machten).

Derweil ist das Phänomen der Lücke in psychotischen Sequenzen an und für sich nichts Neues:

Einmal wollte ich nach einer wilden Party in Stanislaw zurück nach Lwiw und kaufte mir wie gewohnt für die Fahrt noch was zu trinken. Die Party hatte in der Wohnung eines guten Freundes stattgefunden, ganz oben im neunten Stock. Ich wusste, dass dieser Freund und auch meine übrigen Bekannten meine feuchtfröhlichen Eskapaden schon reichlich satt hatten, aber damals luden sie mich immer noch zu Banketten, Geburtstagsfeiern, Präsentationen und Nationalfeiertagen ein. Aber darum geht es hier gar nicht. Ich hatte also für die Fahrt etwas zu trinken gekauft und fuhr los. Zumindest bildete ich mir das ein. Und dann… Dann tauchte plötzlich eine dieser Lücken auf, deren Unergründlichkeit ich bereits erwähnt habe.

(Vielleicht ist die Kontinuität des Seins einfach hie und da beschädigt. Vielleicht ist Gott es ab und zu einfach leid, Milliarden Biographien in einer nicht enden wollenden Abfolge fortzuspinnen, und wenn er nur für einen Moment den Blick von etwas abwendet, oder wenn das Auge Gottes blinzelt, dann taucht im Lebenslauf einer konkreten Person oder auch ganzer Völker ein Bruch auf, ein Loch, das sich nicht flicken lässt: Dafür ist in der Substanz des Seins kein Baustoff vorgesehen.)

Ich habe also noch was zu trinken gekauft und fahre los, ich steige in den Zug, schließe entspannt die Augen, und als ich sie wieder öffne… sitze ich im Treppenhaus eines Neungeschossers, Tasche weg, Geld weg, Kleidung blutverschmiert und Schädel eingeschlagen. „Hast du ’s mal wieder übertrieben, Scheißsäufer“, denke ich. Völlig klar, ich bin gar nicht erst losgefahren, sondern hab im Suff irgendne Scheiße gebaut. Und jetzt sitz ich hier in diesem Plattenbau in Stanislaw, ganz oben, draußen im Treppenhaus, weil ich wahrscheinlich nicht reindurfte. Na gut. Und was jetzt? Als allererstes brauche ich was zu trinken, um wieder klar im Kopf zu werden. Aber wo krieg ich das her, ohne Geld? Zu meinem Kumpel geh ich nicht. Erstens habe ich noch einen letzten Rest Anstand, zweitens ist es noch früh, sieht nach fünf Uhr morgens aus. Aber es muss doch irgendeine Lösung geben! Da fällt mir ein, dass mein Kumpel, ein kleiner Geschäftsmann, in der Gegend eine ganze Kette von 24-Stunden-Kiosken hat, die auch Horilka verkaufen. Ich könnte unter den Verkäufern einen Bekannten suchen oder mich einfach auf die Autorität des Chefs berufen und anschreiben lassen, und so meinen Kater kurieren. Ich halte mich gequält am Geländer fest, gehe nach unten und verlasse das Haus. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, aber der Himmel wird schon grau, wie die Klassiker schreiben: „Es tagt.“ Nach langer sinnloser Suche mache ich einen Kiosk mit Schreibwaren ausfindig – natürlich geschlossen. Von einer Trinkhalle keine Spur. Na dann, bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als Scham und Stolz über Bord zu werfen, zu meinem Kumpel zurückzukehren und zu betteln… Zum letzten Mal!… Mann, ich versprech’s dir, ist das letzte Mal!… Ich geh also zurück, lauf so in Schlangenlinien zwischen den Plattenbauten durch, auf das Gebäude zu, und begreife mit Entsetzen, dass das der falsche Ort ist! Gestern ist mir doch noch aufgefallen, dass vor dem Haus die ganze Straße aufgerissen war – eine Wasserleitung wurde repariert. Von einer Baustelle ist hier keine Spur! Die Straße ist ganz! Nein, ukrainische Bauarbeiter können das nicht alles über Nacht repariert und auch noch asphaltiert haben, ausgeschlossen! So etwas gibt es nicht einmal im allerschlimmsten Rausch.

Mir dämmert, dass ich mich verirrt habe.

Das ist echt die falsche Straße.

Ich such die richtige.

Die ist einfach weg.

Niemand, den man fragen könnte.

Zu früh am Morgen.

Aussichtslos.

Schrecklich.

Nach langem hilflosem Umherirren bemerke ich endlich an einer Kreuzung eine kleine Frau. Sie weicht verängstigt aus und will weglaufen. Doch ich mache ihr mit allen nur erdenklichen Gesten der internationalen Pazifistensprache klar, dass ich mich einfach nur verlaufen habe und die-und-die Straße suche. Die Frau wird noch ängstlicher, sagt, so eine Straße kennt sie nicht, hat sie noch nie gehört, gibt es hier überhaupt nicht. Und schon ist sie weg.

Ich bleibe auf der Kreuzung stehen wie der letzte Depp und plötzlich sehe ich… hinten am Horizont… über dem Saum des Morgennebels… die knochige Säule des Lwiwer Fernsehturms…

Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich bis nach Hause gebraucht habe. Ich weiß nicht, wie viele Kilometer ich zurückgelegt habe. Und ich habe keine Ahnung, wie es mich vom Bahnhof, an dem ich ja angekommen sein muss, in dieses Viertel hier verschlagen hat. Ich will nicht mal wissen, welcher Bezirk das eigentlich ist – Zamarstyniw, Klepariw… – diese ganzen Ortsnamen, die die Profinostalgiker der Stadt zu einer feinen poetischen Träne rühren, haben mir noch nie etwas bedeutet. Aber seit damals liebe ich Lwiw mit der stumpfen Leidenschaft eines hirnlosen Masochisten.

[…]

Aus dem Ukrainischen von Stefan HECK, Tübingen

 

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Andrzej CZCIBOR-PIOTROWSKI: Vaters Rückkehr, Romanauszug (Aus dem Polnischen von Jakob WALOSCZYK)

13. 8. 2014

(Romanauszug)

Seit über einem Monat schon trieben die Bolschewiken in Lemberg ihr Unwesen, es begannen Verhaftungen, Menschen verschwanden spurlos, wie vom Erdboden verschluckt, und vergebens holten ihre Familien bei den neu entstandenen Behörden Erkundigungen ein, die nur mit einem Achselzucken und einer Frage quittiert wurden, nicht auf Ukrainisch, sondern seltsamerweise auf Russisch:

„Woher sollen wir das denn wissen?“

und gerade da läutete eines späten Abends jemand unten an der Pforte, Adelcia, das von Großmutter vor Kurzem aus Przemyśl herbeigeholte Dienstmädchen, wohl kaum mehr als ein, zwei Jahre älter als Sara, ging hinunter, um zu öffnen,

und einen Augenblick später stand ein fremder Mann in der Tür zur großelterlichen Wohnung im ersten Stock, unrasiert, über der Stirn eine Schirmmütze, die das Gesicht vor Blicken schützte, am Leib irgendwelches schäbiges Zeug, doch als er die Mütze abnahm und wir seine Augen sahen, erkannten wir ihn sofort, obgleich ohne die bei einer guten Adresse maßgeschneiderte Offiziersuniform, die glänzenden Stiefel mit den Schäften von Hiszpański, den Riemen und das Holster mit der Dienstpistole Marke Walther darin,

so kam unser Vater endlich aus dem Krieg, jetzt war er wieder mit uns, gerettet, in einem Stück und gesund, und er trat an Mutter heran, die ihn jedoch kaum umarmte, sich einige Schritte entfernte und sogleich sehr bestimmt, fast befehlend sagte:

„Los, Genio, geh dich waschen und rasieren… Adelcia lässt dir ein Bad ein… Dann ziehst du dich um und kannst uns in Ruhe alles erzählen,“

und es verging keine Stunde, da saßen wir alle beisammen: Großmama, Großpapa Stasio, Mutter, Renek und ich, ebenso Sara (lächelnd bemerkte Vater bei ihrem Anblick:

„Kaum bin ich länger nicht da, schon habe ich drei anstatt zwei Kinder…“

und er küsste Sara die Stirn, und sie ihm die Hand),

also saßen wir am Wohnzimmertisch und hörten Vaters Geschichte, und im Gedächtnis blieb mir gerade diese eine Szene:

auf der Straße zur südlichen Grenze hält Vater mit entschiedener Geste einen Sanitätswagen an und lässt unter Androhung des Gebrauchs von Waffen irgendeinen Würdenträger mitsamt Familie daraus aussteigen, befiehlt den Soldaten seiner Einheit alle Koffer, Taschen, Pakete und Truhen auf die Straße zu werfen, weil gleich hinter dem Graben – und seine zeigende Handbewegung sah ich vor mir – Verletzte liegen,

und ich stellte mir vor, wie er, unerschrocken, mit gezogener Pistole, höflich, aber keinen Widerspruch duldend, den Insassen befiehlt die Ambulanz zu verlassen, obwohl auch Frauen und kleine Kinder darunter sind,

und später sah ich ihn in sowjetischer Gefangenschaft hinter dem Stacheldraht des Übergangslagers in Butschatsch stehen, in der Stadt, wo er vor Jahren sein erstes Arztpraktikum absolviert hat, und sah ihn noch am selben Tag wieder hinausspazieren, rausgeholt von seinen jüdischen Ärztekollegen, die in der sowjetischen Stadtregierung schon erste Bekannte haben und den Wachen erklären, da wäre gerade ein schwerer Fall, denn ein Oberst oder gar ein General, kurz ein hohes Tier, sei plötzlich erkrankt, und für das eilig zusammengerufene Konsilium ein dritter Arzt unabdingbar, und das wirkt,

noch in der selben Nacht tauscht unser Vater seine fabelhafte Uniform und die Schaftstiefel gegen unauffälligere Kleidung und macht sich auf den Weg nach Lemberg, in das Haus der Schwiegereltern, und hier trifft er unerwartet nicht nur diese, sondern auch seine Frau und die Söhne, denen es nicht mehr gelungen ist, nach Warschau zurückzukehren,

und dies so freudige doppelte Erstaunen, seines, dass wir hier waren, dass er uns sah, und unseres, dass er glücklich den Sowjets entschlüpft war, machte es im ersten Moment schwer, Pläne für die Zukunft zu schmieden,

unser Vater hatte gedacht, sich von hier nach Warschau begeben zu können, wo Frau und Söhne auf ihn warten, überzeugte sich aber vom Gegenteil, er würde sich also dorthin durchschlagen müssen, ohne überhaupt zu wissen, ob es die Wohnung in Warschau noch gab, ob er dort würde arbeiten können und welche Gefahr im drohen könnte, denn hier, im nun sowjetischen Lemberg, müsste er sich – als Offizier der polnischen Armee, als Freiwilliger im Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1921 – versteckt halten,

und plötzlich zwinkerte Sara mir zu und wies mit dem Blick auf Mutter und Vater, und ich sah sie nacheinander an, und entdeckte in ihren Augen Ungeduld und Verlangen, ich begriff also mühelos, dass sie endlich allein sein wollten, Sara, Renek und mir fielen langsam die Augen zu, wir liefen also in das Badezimmer, um uns vor dem Schlafen ordentlich zu waschen, danach legten wir uns wie immer zu dritt auf das breite Sofa unter dem Wandteppich aus Butschatsch, Mutter und Vater aber gingen in das Nebenzimmer, aus dem noch lange ein Lichtschein und Gesprächslaute drangen,

dann ging die Lampe plötzlich aus, Mutter ging durch unser Zimmer hinüber ins Bad, worauf sie nackt wieder zurücklief und hinter sich die Tür verschloss, und ich und Sara (denn Renek war schon eingeschlafen) sprachen flüsternd davon, wie die beiden dort nebeneinander im Bett liegen, sich küssen und umarmen, sich anschmiegen und lieben, und sich umschlingen, gierig aufeinander,

und das dauerte sehr lange, und dann lief Mutter wieder auf Zehenspitzen durch unser Zimmer, und wir hörten Wasser plätschern, ehe sie lautlos wieder in ihr Zimmer huschte, wo auf dem Sofa, auf dem sie lange Wochen alleine geschlafen hatte, nun jemand Zärtliches und Nahes auf sie wartete,

und als wir am Morgen darauf mit Sara in das Badezimmer kamen, sahen wir an der Wand einen Irrigator hängen, der während Papis langer Abwesenheit in einem Schränkchen gestanden hatte, und eine aus einer Schublade hervorgeholte bauchige Birne mit einem Röhrchen aus Ebonit,

und ich dachte, dass jetzt alles in die gewohnten Bahnen zurückkehrt, dass wir zusammen sein würden, zu viert, nein zu fünft, denn um nichts in der Welt wollte ich mich von Sara trennen,

und wir setzten uns gemeinsam an den Tisch, Adelcia brachte eine Kanne mit Kaffee, und Milch, und Brot, und eine Rolle Butter vom Land, und Hagebuttenkonfitüre, und zuerst schenkte sie in Papis Tasse ein, und lächelte dabei für ihn allein, ich aber konnte meinen Stolz nicht verbergen: um einen solchen Vater konnte man uns nur beneiden… und überhaupt blickten auch Mutter und Sara ihn bewundernd an, wenn er lachte, scherzte und Späße zum Besten gab, als wären wir nicht in einer geknechteten Stadt, seit kurzem Hauptstadt der Westukraine.

 Aus dem Polnischen von Jakob WALOSCZYK, Mykolajiw/Ukraine

Auszug aus dem Roman „Rzeczy nienasycone“ (dt. Unersättliche Dinge), erschienen 1999 im Verlag W.A.B.  (S. 30-33)

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Dalibor ŠIMPRAGA: Die Kontrolle trifft keinen anderen (Kurzprosa, aus dem Kroatischen von Vivian KELLENBERGER)

13. 8. 2014

(Kurzprosa)

Einleitung
Die Kurzgeschichten Kavice Andreja Puplina (Andrej Puplins Käffchen) (Durieux 2002) sind Kaffeemonologe über Krieg, Sex, Drogen, Alkohol und eine desillusionierte Jugend. Dalibor Šimpraga publizierte diese Texte in den 90er Jahren unter dem Pseudonym Andrej Puplin im Internet. Er verfasste die kavice im derben Zagreber Slang, wodurch er sich von der damaligen puristischen Sprachpolitik distanzierte. Die sprachlich wie inhaltlich subversiven kavice avancierten rasch zu Kulttexten. Erzählt werden sie von einem typischen Vertreter der verlorenen Kriegsgeneration. Die vom Erzähler geschilderten Kriegserinnerungen gereichen ihm und der kroatischen Armee wenig zu Ruhme und untergraben offizielle Darstellungen. Nachfolgende kurze Strassenbahnszene aus Kontorola se ne događa nekom drugom (Die Kontrolle trifft keinen anderen) offenbart frustrierte, sich gegenseitig missbilligende und mistrauende Bürger und lässt Zweifel am Zusammenhalt der neuen kroatischen Gesellschaft aufkommen.

 

Hey Mann, hör dir diese geile Story an. Steigt heut so’ne alte Schachtel in die Tram, hat mich schon gecheckt wie ich da sitze, ohne Scheiss, noch als sie dort an der Haltestelle stand, und baut sich gleich vor mir auf wie hingeschissen, ich mein, ihren Arm über mich und so’n Scheiss. Und die ganze Zeit, verstehst, glotzt sie mich an, ob ich aufstehe und so. Und ich, so voll weg von dem, was draussen abläuft, kannst dir denken, Končarastrasse um sechs Uhr früh. Und sie murmelt etwas, räuspert sich und so, und die ganze Zeit steht sie eigentlich neben der Stange neben der Treppe, weil ich gleich dort hinter der mittleren Tür gesessen bin. Dann nix, eine Station nach der anderen, die Menge quetscht und quetscht sich an ihr vorbei, aber hey, die Alte rückt keinen Zentimeter weg, vergiss es. Ich denk’ mir, wart nur, am Arsch steh’ ich auf, was juckt mich das? Kapierst, so’ne fette, hässliche, schwabbelige, schiebt so ’nen bescheuerten karierten Einkaufstrolli. Dann nix, eine Haltestelle nach der anderen, die Menge quetscht sich an ihr vorbei, steigt ein, steigt aus, dann kommt bei der Cibona so’n Typ. So’n älterer, Anzug, Krawatte, ein Herr eben, und fragt der die doch: „Entschuldigen Sie, steigen Sie an der nächsten Haltestelle aus?“ Dann die Alte, also, „nein, ich steige nicht aus“. Da sagt der Typ, ohne Scheiss, der sagt: „Was stehst du dann verfickt noch mal seit fünf Stationen hier vor der Tür?“ Weisst was, in die Hosen hab’ ich mir gemacht. Die Alte, also, beginnt rumzustänkern, so, heutige Jugend und der Stuss, wie du die alle in der Pfeife rauchen kannst, dann sagt sofort irgend so’n Säufer, der gleich hinter ihr steht, also, voll schwankend: „Tja, gäbe es diese Jugend nicht, würden Sie heute kyrillisch schreiben.“ Die Alte, also, unter doppeltem Beschuss, dreht voll durch, verstehst, knallrot, kriegt kaum Luft. Dreht sich um und sagt: „Was geht das Sie an, machen Sie mal lieber zuhause Kinder, als hier in der Tram besoffen rumzuhängen.“ Und der Säufer zu ihr: „Ach ja, immerhin kann ich noch Kinder machen, aber Sie, hätten Sie Kinder gemacht, als sie noch im Saft waren, dann müssten Sie jetzt hier nicht rumgeifern.“ Ich mein, eine Reality Show. Die Menge grölt, ich sag’s dir, voll geil. Und jetzt, was noch das Beste ist, kommt bei der Haltestelle so’n Typ rein, hab’ sofort gerafft, das is’ ein Kontrolleur, also, auf einen Kilometer, kein Zweifel. Ich denk mir, leck mich am Arsch, was willst du so verfickt früh, aber was kratzt es mich, ich hab’ noch meinen Ausweis aus der Armee, der soll mir bloss kommen. Dann nix, sobald sich die Türe geschlossen hatte, verstehst, los, Fahrkarten und Abonnemente vorweisen. Und die alte Schachtel beginnt in ihrer Tasche rumzuwühlen, und als die Tram in die Savskastrasse biegt, stürzt sie auf den Kontrolleur, der ja bei der Tür stand. Darauf der Säufer: „Gell, jetzt tät’st du gern, was hast du nicht, als du noch konntest?“ Und alle, also, lachten sich kaputt, voll die Show! Und dann die Alte, hey komm, stell dir die blöde Kuh vor, also ich hatte echt Lust ihr ’ne Kugel in den Schädel zu jagen, die sagt: „Hören Sie, fragen Sie den da, ob der eine Fahrkarte hat“ und zeigt auf mich. Ich bring dich um, ich fick’ dich durch, was hab’ ich dir denn getan, geht dich doch ’n feuchten Scheiss an, ob ich ’ne Karte hab’ oder nicht. Und der Kontrolleur, so ein, verstehst, voll ok Typ, auch solche gibt’s, sagt: „Gleich, gleich, aber zeigen Sie mir zuerst Ihre“, dabei zwinkert er mir zu. Und die Alte wird verlegen, wühlt dort in ihren Taschen rum und hinten hört man den Säufer: „Herr Kontrolleur, lassen Sie sich nicht verarschen, die will sich bloss drücken, die hat nämlich keine Fahrkarte. Keine Gnade!“ Und die Alte zum Kontrolleur: „Den können Sie auch gleich fragen, solche fahren schwarz, und nicht mich hier“ und fängt wieder damit an, dass sie zu neunzig Prozent behindert ist und so’n Scheiss. Und der Säufer, so, „Festnehmen! So was muss man sofort festnehmen! Fickt hier frühmorgens anständige Leute an, Scheiss-Alte! Was geht sie in die überfüllte Tram, wo sie doch behindert ist?“ Hey, das glaubst du nicht. Voll die Show. Ich mein, Mr Bean ist ein Scheissdreck dagegen.

Einleitung und Übersetzung aus dem Kroatischen von Vivian KELLENBERGER, Bern

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Michal AJVAZ: Das Konzert, Kurzprosa (Aus dem Tschechischen von Kateřina RINGESOVÁ)

13. 8. 2014

(Kurzprosa)

Einleitung
Michal Ajvaz, seit 1994 ist er freier Schriftsteller und Publizist, debütierte 1989 mit dem Gedichtband Vražda v hotelu Intercontinental (Mord im Hotel Intercontinental), in dem bereits sein späteres Prosawerk anklingt. In seinen Geschichten webt Ajvaz eine mythische Welt, in der übernatürliche, mysteriöse und groteske Visionen in den Alltag einer Großstadt greifen, eine Welt, die an das magische Prag von Jakub Arbes und Gustav Meyrink erinnert. So z. B. in „Návrat starého varana“ (Die Rückkehr des alten Warans, 1991), Druhé město (Die andere Stadt, 1993), Zlatý věk (Goldenes Zeitalter, 2001), Cesta na jih (Die Reise in den Süden, 2008). „Das Konzert“ stammt aus dem Buch Návrat starého varana.

Ich spiele Klavier auf der Bühne der Sala terrena im Garten; ich weiß, dass von meiner Leistung meine ganze zukünftige Karriere abhängt, entweder werde ich mich als Klaviervirtuose durchsetzen und auf Konzertreisen durch die Metropolen der Welt gehen, oder ich kehre wieder in meine Höhle auf dem Rain zurück. Am Anfang bin ich konzentriert und ruhig, nur etwas stört mich ein wenig, denn die Tasten sind seltsam klebrig, als wären sie mit Honig begossen, oder eher noch, als wären sie aus Wachs, und ihre Oberfläche würde vor Wärme schmelzen. Die Tasten kleben mir mehr und mehr an den Fingern, das ist ziemlich unangenehm, vor allem wenn ich schnelle Passagen spiele, doch ich versuche, mich dadurch nicht aus dem Konzept bringen zu lassen, letztendlich habe ich schon manches bei Konzerten erlebt, ich erinnere mich, wie mir beim Spielen in einem Club eine Ratte über die Klaviatur lief, ihre kleinen Beine zupften falsche Akkorde, ein dummes Rattenliedchen, das sich in meine Sonate einmischte, die Ratte verfolgte meine über die Klaviatur flatternden Hände, und jedes Mal, wenn sie eine von ihnen eingeholt hatte, biss sie hinein. Dennoch spielte ich damals das Stück zu Ende, mit einer abgebissenen Kleinfingerspitze und blutigen Tasten. Ein andermal ist mir passiert, dass unter mein Klavier heimlich ein haariges Tier kroch, sich zusammenrollte und einschlief; und als ich in einer lyrischen Passage das Pedal drücken wollte, trat ich dem Tier auf den Kopf, es heulte verzweifelt auf, schoss unter dem Klavier auf die Bühne hervor und begann panisch hin- und herzujagen, jaulte und winselte dabei unaufhörlich. Auch damals spielte ich das Konzert zu Ende, obgleich das Stück bis zum letzten Ton vom Jammern des Tieres begleitet wurde. Klebrige Tasten sind jedoch unangenehmer als alle Tiere zusammen, das Schlimmste: Die Tasten kleben auch aneinander, das heißt, wenn ich eine anschlage, fallen gleichzeitig fünf oder sechs und eine diabolische Dissonanz ertönt. Beunruhigt spüre ich, dass die Tasten weicher und weicher werden und meine Finger immer tiefer eintauchen. Ja, jetzt passiert sogar schon, dass beim Anschlag mein Finger ganz in der Taste versinkt, ich kann ihn dann nicht schnell genug wieder befreien, und außerdem wird, wenn ich den Finger aus der aufgeweichten Taste herausziehe, ein unappetitliches, schlürfend-schmatzendes Geräusch laut (als zögen wir unseren Fuß aus dem Schlamm) und dieses leise Grunzen des Klaviers mischt sich in die Töne der Komposition. Aber auch die von den Klavierseiten angeschlagenen Töne sind nicht mehr klar, die scharfen Grenzen zwischen ihnen verschwimmen und sanfte Übergänge entstehen, ein Ton fließt träge hinüber in den anderen, geht dabei jedoch nicht in ihm auf, sondern klingt auf seinem Grund zusammen mit allen Tönen, die wiederum in ihn eingeflossen sind und die er in sich trägt, und so unterscheiden sich die einzelnen sich in dem amorphen Gedächtnis des Klaviers auflösenden Töne immer weniger voneinander, sie nähern sich der Verschmelzung zu einem einzigen Ton, einem einzigen Rauschen, in dem alle Töne enthalten sind. Zu alledem verdichtet sich der Nebel, im Weiß des Raumes zeichnen sich anfangs undeutlich nur die schwarzen Tasten ab, und nun sind auch sie schon verschwunden, ich spiele blind, meine Hände arbeiten sich mühsam durch die aufgeweichte Klaviatur wie Byrd durch den Schnee der Antarktis; wenn ich die Hände hebe, ziehen die zerschmelzenden Tasten Fäden wie Kaugummi, meine Finger sind ganz verklebt und ich wische sie immer wieder an meiner Hose ab, unter solchen Umständen zu spielen ist recht schwierig und es macht keinen Spaß;  außerdem weiß ich nicht, ob es sich überhaupt lohnt, denn aus dem Klavier erklingt sowieso nur noch ein einziger Ton, ein einziges Rauschen, das alle Töne in sich schließt, ich spiele weiter und denke daran, dass in diesem Rauschen, das aus dem Klavier dringt, alle Kompositionen enthalten sind, die, die schon geschrieben sind,  und auch die, die noch geschrieben werden, ja, sogar die nie verfassten Stücke genialer Komponisten, jung verstorbenen, ich lausche dem monotonen Rauschen und fühle, wie es langsam anfängt, mir zu gefallen, mir scheint zuweilen, dass sich darin wunderschöne Kompositionen verbergen, schöner als alles, was ich je gehört habe, ich spüre, wie Unruhe und Ekel sich zu freudiger Ekstase verwandeln, dies ist mein bestes Konzert, denke ich mir, meine beste Leistung, sollen die Musikkritiker doch dazu sagen, was immer sie wollen, ich hebe meine Hände zum Schlussakkord, die Tasten triefen von meinen Fingern wie Nudelteig, und dann beuge ich mich, versenke die Hände triumphierend in die Klaviatur, ich tauche bis zu den Ellenbogen hinein, bis zu den Schultern, beim Rauschen der Sterne versinke ich trunken in den Sumpf des zerschmolzenen Klaviers.

Einleitung und Übersetzung aus dem Tschechischen von Kateřina RINGESOVÁ, Berlin

Michal AJVAZ: „Návrat starého varana“, Hynek, Praha 2000, S. 137-139.

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TRANSSTAR-ÜBERSETZUNGEN IV (LICHTUNGEN)

13. 8. 2014

Aus dem Inhaltsverzeichnis

Alle Texte lesen Sie hier.

Claudia DATHE / Daniela KOCMUT: Einleitung

TransStar – Ein Projekt für Europas neue Kulturmittler

„TransStar“ ist ein junges europäisches Projekt, das ostmittel- und südosteuropäische Sprachen, ihre Literaturen und Kulturen in den Mittelpunkt von Diskussion, Austausch und Wahrnehmung rücken will und Studierenden und young professionals in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Polen, Tschechien, Kroatien, Slowenien und der Ukraine die Möglichkeit gibt, an diesem Prozess mitzuwirken und sich insbesondere in das literarische Übersetzen und in die Grundlagen des europäischen Kulturmanagements einzuarbeiten.

In den zunehmend transkulturell geprägten Lebenswelten sind nicht mehr nur Fachleute mit Spezialwissen gefragt, sondern die Kenntnis europäischer Kulturen wird für jeden Einzelnen zu einem alltäglichen Erfordernis. Um einen breiten Zugang zu den Kulturen zu ermöglichen, ist eine größere Anzahl von Kulturmittlern notwendig. Daher wurde dieses Projekt ins Leben gerufen, um die Integration der verschiedenen europäischen Kulturen zu fördern und jungen Sprach- und Kulturmittlern die Möglichkeit zu bieten, beim Zusammenwachsen der europäischen Nachbarn neue Impulse zu setzen.

Mit den Ausgaben 135/2013, 136/2013 der LICHTUNGEN stellen sich die jungen ÜbersetzerInnen mit Übersetzungen zeitgenössischer Literatur aus den fünf Ländern vor.

WerkstattleiterInnen des Projekts für Übersetzungen ins Deutsche: Alida BREMER (Münster), Claudia DATHE (Tübingen), Matthias JACOB (Tübingen), Kristina KALLERT (Regensburg), Daniela KOCMUT (Graz), Olaf KÜHL (Berlin)

Vielen Dank an die AutorInnen und Verlage für die freundliche Genehmigung des Abdrucks.


Übersetzungen in LICHTUNGEN 138/XXXV

Michal AJVAZ
Das Konzert, Kurzprosa (Aus dem Tschechischen von Kateřina RINGESOVÁ)

Dalibor ŠIMPRAGA
Die Kontrolle trifft keinen anderen (Kurzprosa, aus dem Kroatischen von Vivian KELLENBERGER)

Andrzej CZCIBOR-PIOTROWSKI
Vaters Rückkehr, Romanauszug (Aus dem Polnischen von Jakob WALOSCZYK)

Jurij IZDRYK
Lwiw: Sequenzen einer Psychose, Essay-Auszug (Aus dem Ukrainischen von Stefan HECK)

Jani VIRK
Liebe in der Luft, Romanauszug (Aus dem Slowenischen von Anja WUTEJ)

 

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TransStar-Übersetzungen in LICHTUNGEN 137/XXXV (Juni 2014)

4. 7. 2014

Die ÜbersetzerInnen des Projekts Transstar Europa in der letzten Ausgabe LICHTUNGEN 138/XXXV sind nun online im AutorInnenverzeichnis (hier).

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