Notizen aus der Werkstatt: Die Kombipretation der Dinge

22. 1. 2014

Daniela Pusch: Die Kombipretation der Dinge

Übersetzerarbeit ist Detektivarbeit. Um einen Fall zu lösen, spürt man ihm nach, man überprüft und verfolgt den Sachverhalt zurück bis zu dem Punkt, von dem alles ausgeht, um die Zusammenhänge und schließlich das große Ganze zu verstehen. Dabei helfen die Fragen, und ein echter Detektiv wird nie müde, sie zu stellen. Der Sachverhalt, der dem Übersetzer vorliegt, ist der Ausgangstext, den es nun also zu entschlüsseln gilt. Ist der Text gelesen, kommen die Fragen an die Reihe: Wer? Was? Wann? Wo? Und warum? Mit wem? Wichtig auch – die Frage nach dem Kontext, und auch hier gibt es viele Ansätze: Wer schrieb den Text unter welchen Umständen, mit welcher Erfahrung und wozu? Liegt ein ganzer Text vor? Ist der Text Teil eines Ganzen? Es ist sicherlich nicht nötig, alle Fragen zu stellen, um den Fall zu lösen – aber es müssen die richtigen sein.

Für ein Lese- und Reisebuch1 sollte ich einige Seiten aus einem Roman der 1980-er Jahre übersetzen. Belletristik, wenn auch in einer grauen tschechoslowakisch-sozialistischen Vergangenheit sich ab-spielend, so doch auch für einen heutigen Leser gut nachvollziehbar, eine dramatische Liebesgeschichte2. Der Held des Romans (Pavel) reist seiner Geliebten (Julka) heimlich von Prag in deren ostslowakische Heimatstadt Košice nach, um sie dort zu überraschen. Der mir vorliegende Auszug begann mit einem Brief Julkas an Pavel, in dem sie ihm mitteilt, dass sie dort für längere Zeit bleiben wird. Übersetzen sollte ich allerdings erst vier Seiten später, ab dem Zeitpunkt, als Pavel, bereits in Košice angekommen, sie dort sucht. Es war nicht viel, bloß das eher zufällige Treffen der beiden Liebenden, das jedoch ganz anders verläuft, als Pavel es sich vorgestellt hatte, und mit einer Verabredung endet, die Julka vermutlich nicht einhalten wird. Die letzten Worte „Niemand ging, niemand kam.“ ließen mich als Leser äußerst unbefriedigt. Glücklicher-weise hatte man mir einige Seiten mehr zugeschickt, und so las ich weiter: Pavel beschließt, Julka zuhause abzuholen (er weiß, wo sie wohnt), doch vergeblich, sie ist nicht da. Stattdessen gerät er in eine slapstickreife Verwechslungssituation – für den Leser sehr lohnenswert! Ich erhielt die Erlaubnis, auch diese Passage zu übersetzen, die den Leser für das missglückte Liebestreffen versöhnlich stimmen sollte. Doch diese Stelle hatte es in sich. Ebenso überrascht wie Pavel ist der Leser, als nicht wie erwartet Julka, sondern ein fremder älterer Mann die Tür öffnet, der sich aber schnell als Julkas Vater herausstellt. Doch als obendrein eine fremde ältere, äußerst attraktive Dame hinzukommt und sich als ebendie Frau vorstellt, nach der Pavel gefragt hatte, wird es unübersichtlich. Wer ist diese Dame? Es gesellen sich weitere Fragen hinzu: Wer ist Karolko, der in diesem Abschnitt ebenfalls, gleich dreimal, erwähnt wird? Warum muss die geheimnisvolle Dame gepflegt werden? Und weshalb schlägt ihre Stimmung plötzlich derart um, wird gar feindselig, als Pavel nach Julka fragt? Ein kleiner Trost bleibt – Pavel scheint ebenso verwirrt zu sein wie der Leser und findet sich schließlich alleine und ahnungslos vor dem Hauseingang wieder, als ihn ein kleines Mädchen am Ärmel zupft und ihm anbietet, ihm für zehn Kronen den Aufenthaltsort von „Tante Julka“ zu verraten. In diesem Augenblick ist der Leser gar gewillt, dem Kind das Geld selbst zuzustecken, um zu erfahren, was los ist…

Wie gesagt, hatte diese Stelle es in sich. Eine Wort-für-Wort-Übersetzung macht wenig Sinn, wenn das Ganze nicht klar ist – bei einem Textauszug nicht immer zufriedenstellend lösbar. Am meisten verwirrte die Stelle, in der von der Pflegebedürftigkeit jener attraktiven wie offenbar völlig gesund wirkenden Dame die Rede ist. Sollte hier vielleicht ein Missverständnis vorliegen, vielleicht geht es gar nicht um den Begriff „Pflege“ (im Original: „potřebuje ošetřovat“)? Hier waren die Muttersprachler des Vertrauens gefragt, und als der erste nur das bestätigte, was der Detektiv selbst bereits herausgefunden hatte, wurde ein zweiter befragt, vielleicht noch ein dritter… Als die nur die eine Version der (Kranken-)Pflege bestätigten, wurde ein Strategiewechsel nötig. Da einige Seiten mehr an Kontext vorlagen, konnte der Detektiv hier weiter nach Hinweisen suchen. Und er wurde fündig! Der Schlüssel befindet sich in Julkas Brief an Pavel. Darin erklärt sie nebenbei, warum sie für längere Zeit nach Košice fährt: Sie soll ihre kranke Schwieger-mutter pflegen! Ist dieser Bezug hergestellt, lassen sich schnell alle Fragen beantworten. Die geheimnisvolle Dame gleichen Namens ist niemand anders als Julkas Schwiegermutter, bei Karolko handelt es sich um deren Sohn, also um Julkas Mann. Und so ist auch klar, warum die Stimmung umschlägt, als Pavel, ein fremder Kerl aus Prag, sich nach Julka erkundigt, zumal zwischen den Zeilen etwas (wohl ein Vorfall außerhalb des Textausschnittes) in der Luft liegt, worauf man jedoch nur aufmerksam wird, wenn man das Ganze im Blick hat. Übrigens erklärt sich dadurch ebenfalls, warum Karolko eine so undankbare Rolle innehat, die Haltung des Erzählers ist sehr nahe an der Wahrnehmung Pavels, und deshalb löst sich wiederum erst im Nachhinein das Rätsel um die Pflegebedürftigkeit der Schwiegermutter auf, nämlich als ein Vorwand, um die untreue Julka im heimischen Košice unter Kontrolle zu halten.

Den Sachverhalt zu entschlüsseln war in diesem Fall eine besonders reizvolle Aufgabe. Der Text allein baut eine gewisse Spannung auf, indem er Lücken lässt; jedoch wird dabei von einem Informations-stand ausgegangen (Frage nach dem Kontext!), der sich bis zu dem zu übersetzenden Textauszug allmählich aufgebaut hat. So dürften dem Leser des ganzen Romans etwa Julkas familiäre Verhältnisse oder die Identität Karolkos klar sein, während wir hier bei unserer detektivischen Kombination von Null an beginnen. Zweifelsohne wird niemand diese Seiten so aufmerksam nachvollziehen und rekonstruieren wie der Detektiv-Übersetzer, und deshalb ist es auch so wichtig, dass alles in sich stimmt. Was haben wir von einem vergraulten weil unnötig verwirrten Leser? Hier endet die Arbeit der Spürnase, und nun wird der Übersetzer aktiv: Das Rätsel um Julka als Höhepunkt des Textabschnittes muss wieder neu geschaffen werden, und zwar so, dass es der Leser nachvoll-ziehen kann – ebenso muss es aber der Originalvorlage gerecht werden. Wieviel Interpretation braucht der Text? So wenig wie möglich! Ich habe mich dafür entschieden, an zwei Stellen die Aufmerksamkeit des Lesers durch Ergänzungen von Namen dezent zu lenken. Das Rätsel löst sich so nicht von allein, der Leser muss dafür immer noch eine Eigenleistung bringen, um es entschlüsseln zu können.

Nachdem nun alle Unklarheiten beseitigt worden sind, wollen wir sicher alle (einschließlich Verleger) wissen, wo Julka nun steckt. Pavel bekommt eine Adresse genannt, die er nach langem Suchen endlich findet, und platzt in den fortgeschrittenen Abend einer illustren Gesellschaft hinein, mittendrin Julka, die beim Anblick Pavels vom Schoß eines fremden Mannes (Kornél) rutscht… Wer dieser nun wieder ist, das kann innerhalb des Kontextes nicht aufgelöst werden. Der Fall ist also bis auf weiteres abgeschlossen, bei Vorlage eines neuen Sachverhalts erklären sich Detektiv und Übersetzer gerne bereit, die Ermittlungen wieder aufzunehmen.

1 Košice – Kaschau. Ein Reise- und Lesebuch. Hgg. v. Dušan Šimko, ersch. im Arco-Verlag, Wuppertal 2013.
2 Zídek, Karel: Jako jed. Prag 1982.

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