Die Normen beim Übersetzungsprozess

29. 12. 2014

Die Translationswissenschaft war lange eher präskriptiv orientiert und befasste sich vorwiegend mit der Frage, was die beste Art des Übersetzens sei. Für einige Translationswissenschaftler in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts würde die Frage, wieso Übersetzer auf eine gewisse Art und Weise übersetzen jedoch interessanter; sie wollten nicht vorscheiben, wie übersetzt werden soll, sondern das Phänomen des Übersetzens in erster Linie beschreiben – daher der Begriff „deskriptive Translationswissenschaft“. Gideon Toury, ein einflussreicher Vertreter der deskriptiven Translationswissenschaft, befasste sich unter anderem mit der Rolle der „Normen“ beim Übersetzungsprozess. Toury behauptet, dass Übersetzen durch drei Arten von Normen bestimmt wird:

Die Ausgangsnormen [initial norms] betreffen die Adäquatheit [adequacy] und die Akzeptabilität [acceptability] der Übersetzung. Bei einer adäquaten Übersetzung richtet sich der Übersetzer nach den Normen der Ausgangskultur; diese werden in die Zielkultur übertragen. Bei einer akzeptablen Übersetzung wird hingegen der Text an die Normen der Zielkultur angepasst.

Bei den Vornormen [preliminary norms] handelt es sich vor allem um die jeweilige Übersetzungspolitik; z.B. welche Kulturen bevorzugt werden, welche Autoren und welche Textsorten übersetzt werden.

Die Operativnormen [operational norms] beziehen sich auf konkrete Entscheidungen beim Übersetzen, z.B. inwieweit verschiedene Elemente des Originals beim Übersetzen modifiziert werden, was ausgelassen wird usw. (Unter dem Begriff „Übersetzung“ versteht Toury nämlich alle Texte, die in der jeweiligen Kultur als Übersetzung gelten – auch Adaptionen und sogar Pseudoübersetzungen.)

In den 90er Jahren wandte sich die Translationswissenschaft im größeren Masse dem Übersetzer als Individuum zu. Im Aufsatz „The Pivotal Status of the Translator’s Habitus“ (1998) von Daniel Simeoni findet das von Pierre Bourdieu entwickelte Konzept des Habitus auch in der der Translationswissenschaft Anwendung. Simeoni befasst sich mit der Frage, wieso sich die meisten Übersetzer – obwohl sie verschiedene Handlungsmöglichkeiten haben – den zeitgenössischen Übersetzungsnormen unterwerfen. Er meint, dass Übersetzer die Fremdzwänge, denen sie ausgesetzt sind, nach einiger Zeit internalisieren, und sie deshalb gar nicht mehr als Zwänge empfinden.

Einen Überblick der Entwicklung dieser Theorien findet man in Entwicklungslinien der Translationswissenschaft: Von den Asymmetrien der Sprachen zu den Asymmetrien der Macht von Erich Prunč (2007, Frank & Timme, S. 234–236, 314–317).

 von Janko Trupej

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